Deutsches Staatsrecht. 171
auch der nichtkriegerischen Selbsthilfe= und Gewaltmaßregeln des Völkerrechts (Retorsion, Re-
pressalien, Friedensblockade usw.).
Mit dieser umfassenden Reichskompetenz auf dem Gebiete des Auswärtigen hat nun aber
die Befähigung und Befugnis der Einzelstaaten, als Subjekte des Völkerrechts aufzutreten, nicht
durchaus beseitigt werden wollen. Eine solche Beseitigung hat nur stattgefunden, soweit die Zu-
ständigkeits des Reiches zur Ausübung der auswärtigen Hoheitsrechte eine ausschließliche
ist. Die Ausschließlichkeit kann sich ergeben entweder aus dem Wortlaut der RV. oder aus ihrem
Sinn, oder aus dem Wesen der Sache, nämlich der bundesstaatlichen Unterordnung der Einzel-
staaten unter das Reich und der hierdurch notwendigen bedingten intermationalen Statusmin-
derung.
1. Fest steht, daß den Einzelstaaten das Recht, mit anderen Staaten, deutschen und aus-
wärtigen, direkt, ohne Vermittlung der Reichsgewalt zu verkehren, an sich nicht entzogen ist. Sie
haben dieses Recht also, dürfen es freilich nur so ausüben, daß dadurch ihren „Bundespflichten“
(RV. Art. 19), insbesondere der Pflicht zur Treue und zum Gehorsam gegen das Reich, kein
Abbruch geschieht. Pflichtwidrig in diesem Sinne und von Reichs wegen nötigenfalls auf dem
Wege der Exekution (Art. 19 a. a. O.) zu verhindern wäre, abgesehen von hochverräterischer Be-
teiligung an Unternehmungen oder Bestrebungen gegen das Reich, schon jeder Versuch, die Po-
litik des Reiches zu durchkreuzen, ferner die Fortsetzung des Verkeyrs mit einem Staate des Aus-
landes nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen demselben und dem Reich und
umgekehrt ein Abbruch dieser Art gegenüber einem Staate, zu dem das Reich freundliche Beziehun-
gen aufrechterhält. Zur Pflege des ihnen hiernach gestatteten internationalen Verkehrs können
sich die Einzelstaaten der völkerrechtlich üblichen Organe und Mittel bedienen; es ist ihnen ins-
besondere das jus legationum im engeren Sinne (Diplomatie), das aktive wie das passive,
nicht genommen (geht namentlich aus Art. VII, VIII des bayer. Schlußprotokolls vom 23. No-
vember 1870 hervor), während sie Konsuln zwar empfangen und für ihr Gebiet mit dem Exe-
quatur versehen (bayer. Schlußprotokoll Art. XII), eigene Konsulate jedoch nur an Plätzen inner-
halb des Reichsgebietes, nicht im Auslande errichten dürfen: die in Art. 56 Abs. 2 RV. vorgesehene
Aufhebung der deutschen Landeskonsulate im Auslande ist längst erfolgt. — Einen erheblichen
Gebrauch von dem Rechte eigener Diplomatie im Auslande hat seither nur Bayern gemacht,
während z. B. Preußen außerhalb Deutschlands nur eine Mission besitzt: die Gesandtschaft beim
päpstlichen Stuyl. Nichtgebrauch des bezeichneten Rechts bedeutet nicht Verzicht darauf, bewirkt
aber, daß der Geschäftskreis, welchen die betreffende Landesgesandtschaft, falls sie bestände, inne-
haben würde, dem Reiche und seiner Gesandtschaft zufällt. In den Geschäftskreis der Landes-
gesandtschaften gehört die diplomatische Wahrnehmung der besonderen Interessen des betr. Einzel-
staates, seines Herrschers und Herrscherhauses, sowie seiner Angehörigen, jedoch vorbehaltlich des
Rechtes des Reichs, den „Schutz aller Deutschen gegenüber dem Auslande“ (RV. Art. 3 Abs. 6)
jederzeit auf Antrag oder von Amts wegen in seine eigene Hand zu nehmen, und vorbehaltlich
überhaupt der Befugnis des Reichs, einseitig und maßgebend zu bestimmen, wo das Sonder-
interesse eines Einzelstaates aufhört, das allgemein-deutsche, nationale Interesse an einer An-
gelegenheit beginnt und damit die Zuständigkeit der partikularen Diplomatie ausgeschlossen wird.
2. Auch das Recht, Verträge mit anderen Staaten abzuschließen, ist den Einzelstaaten
nicht genommen, nur verkürzt worden. Soweit es besteht, wird es im unmittelbaren Verkehr
von Staat zu Staat (ohne das Erfordernis der Vermittlung des Reichs) und ohne präventive Kon-
trolle der Reichsgewalt ausgeübt; die Einzelstaaten bedürfen zum Abschluß von Verträgen auch
mit auswärtigen Staaten der Genehmigung des Reichs nicht. Gegenständlich ist das Vertrags-
schließungsrecht der Einzelstaaten durch die allgemeinen, s. oben §& 11 dargestellten, Kompetenz-
normen begrenzt, so daß einerseits das Vertragsschließungsrecht des Reichs nicht weiter reicht
als seine sachliche Zuständigkeit (Art. 4 RV.) überhaupt und die Befugnis zum Abschluß eines
Reichsvertrages über Angelegenheiten, welche außerhalb dieser Zuständigkeit liegen, erst durch
ein kompetenzerweiterndes, also verfassungsänderndes Reichsgesetz (s. oben 3 11 S. 71, 72) be-
gründet werden müßte, — andererseits jeder Einzelstaat über die Gegenstände, welche seiner inneren
Gesetzgebung und Verwaltung überlassen sind, in dem Maße der ihm gebliebenen Freiheit wie
durch sonstige Staatshoheitsakte so auch durch Staatsverträge verfügen darf. Das Verhältnis