Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

172 G. Anschütz. 
von Reichs und Landeszuständigkeit aus dem Gebiete der Staatsverträge ist demnach folgendes 
Die Verträge der Einzelstaaten dürfen den Verträgen des Reiches nicht widersprechen, in die aus- 
schließliche Reichskompetenz nicht eingreifen und können der Reichskompetenz überhaupt nicht 
vorgreifen. Soweit die Ausschließlichkeit der Reichskompetenz reicht, (s. oben § 41), sind wie alle 
anderen Akte der Einzelstaaten, so auch Verträge derselben, ausgeschlossen. Nur vom Reiche, nicht 
von den Einzelstaaten können daher Staatsverträge abgeschlossen werden über Marine und See- 
schiffahrt (RV. Art. Nr. 7, 53, 54: ausschließliche Reichszuständigkcit, weil nur das Reich zu staat- 
licher Machtentfaltung auf See befugt ist, weil zur See eine an ere deutsche Schiffsnationalität 
und Flagge als die des Reichs — RV. Art. 55 — nicht anerkannt ist und somit das Reich seerecht- 
lich geradezu als Einheitsstaat erscheint), Zollgesetzgebung (RV. Art. 35, insoweit partikulare 
Handelsverträge mit dem Auslande unmöglich), Militärgesetzgebung, Post und Telegraphie 
(vorbehaltlich der Reservatrechte, RV. Art. 52 Abf. 3), ferner über alle Gegenstände, die dem Be- 
reich der großen Politik angehören und die volle völkerrechtliche Souveränetät der Vertragschließen- 
den, insbesondere deren Fähigkeit für Kriegführung, voraussetzen (Schutz= uns Trutzbündnisse, 
„Allianzen“" aller Art). Soweit die Gesetzgebungshoheiten des Reichs und der Einzelstaaten kon- 
kurrieren, als regelmäßig in allen Angelegenheiten des Art. 4 RV. (s. oben § 11), konkurriert auch 
das Recht beider Gewalten, Verträge zu schließen. Solange also das Reich von einer ihm nach 
Art. 4 zustehenden Gesetzgebungskompetenz nicht Besitz ergriffen hat, können die Einzelstaaten 
über die betreffende Materie wie Gesetze erlassen, so Verträge schließen, wobei sie jedoch der Auf- 
sicht des Reichs fortwährend unterworfen und der Aufhebung ihrer Verträge durch ein ergehendes 
Reichsgesetz oder einen vom Reiche abgeschlossenen Vertrag ausgesetzt sind. Soweit den Einzel- 
staaten auf einem reichsgesetzlich geregelten Gebiet Verwaltung und Justiz nach Maßgabe des 
Reichsgesetzes zustehen, dürfen sie zwar dies Reichsgesetz nicht ändern, wohl aber über ihre Verwal- 
tungs- und Justizhoheit durch Verträge unter sich disponieren (Abtretung der Kontingentsherr- 
lichkeit seitens der meisten Einzelstaaten an Preußen durch die Militärkonventionen, Verträge 
mehrerer Einzelstaaten über gemeinsame Zollbehörden, gemeinsame Gerichte, usw.). Soweit 
endlich das Reich nach der RV. weder zur Verwaltung noch zur Gesetzgebung, noch zur Beauf- 
sichtigung einer Angelegenheit zuständig ist (reichsfreie Sphäre der Einzelstaaten; s. oben S. 70, 71), 
herrscht die partikulare Vertragschließungskompetenz unbeschränkt, — abgesehen von den all- 
gemeinen (s. oben S. 171) Grenzen, welche der völkerrechtlichen Daseinsbetätigung der Einzel- 
staaten überall und so auch hier gezogen sind. 
3. Ist sonach auf den Gebieten des Gesandtschafts- und Vertragsschließungsrechts den 
Einzelstaaten ein immerhin noch ansehnliches Maß internationaler Rechtsfähigkeit verblieben, 
so erscheint diese Rechtsfähigkeit nach einer weiteren Richtung hin durch das Dasein und die Zu- 
ständigkeit des Reichs völlig aufgehoben: den Einzelstaaten fehlt das Recht der Selbsthilfe im Streit 
mit anderen Staaten; „sie entbehren des völkerrechtlichen Aktionenrechts“"“ 
(Haeneh), damit aber gerade des Abschlusses und der Vollendung der völkerrechtlichen Persön- 
lichkeit. Ihnen ist, seit sie zum Reiche vereint sind, nicht mehr gegeben, im Kampfe selbst ihr Recht zu 
finden, von den Mitteln kriegerischer und nichtkriegerischer Zwangsgewalt Gebrauch zu machen, 
welche das Völkerrecht souveränen Staaten zur Verfügung stellt. Sie sind im Streitfalle nicht 
auf sich selbst, sondern auf das Reich angewiesen. Das Reich ist ihr Richter und ihr Beschirmer. 
Dies gilt zunächst in Streitigkeiten der Einzelstaaten unter sich, welche nach Art. 76 Abs. 1 R. 
auf Anrufen des einen Teils vom Bundesrate zu erledigen und, wie dem hinzuzufügen ist, seitens 
der Reichsgewalt, auch wenn kein „Teil“ sie anruft, von Amts wegen nach Art. 19 RV. beizu- 
legen sind, wofern ein Teil oder beide verfassungswidrig zur Eigenmacht greifen. Dem Auslande 
gegenüber aber ist das Reich der geborene, nicht zu umgehende Schutz= und Schirmherr seiner 
Einzelstaaten. Gegen den auswärtigen Staat Rechte zu erwerben, ist der Einzelstaat in dem oben 
angegebenen Maße fähig; diese Rechte zwangsweise geltend zu machen, steht allein dem Reiche 
zu. Die Kompetenz des Reichs nicht nur zur Kriegführung, sondern auch, außer- und unterhalb 
dieser ultima ratio, zur Handhabung jeder anderen Art völkerrechtlich statthafter Eigenhilfe ist 
eine ausschließliche. Diese Kompetenz pflichtmäßig auch zum Schutz und Interesse der 
Einzelstaaten auszuüben, gehört mit zum Beruf der Reichsgewalt. — 
Die Ausübung der auswärtigen Hoheitsrechte ist in den Einzelstaaten Sache des Monarchen 
(bezw. der Senate der Hansestädte), im Reiche das Amt des Kaisers, welcher (vgl. oben S. 105)
	        
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