Deutsches Staatsrecht. 175
§ 46. Das Kriegswesen. (Verfassungsrechtliche Grundlagen.) 1
I. Einleitende Erörterungen. — „Kriegswesen“ ist der Inbegriff der Staatstätigkeiten,
welche sich auf die Herstellung, Unterhaltung, Verwendung der bewaffneten Macht beziehen.
Es kann nicht daran gedacht werden, im folgenden alle im weiteren und weitesten Sinne hier
einschlagenden Rechtssätze darzustellen. Gegenstand der Betrachtung sind, in absichtlich enger
Begrenzung der Aufgabe, nur die allgemeinen Grundzüge der deutschen Heeresver-
fassung: die verfassungsmäßigen Grundlagen des deutschen Kriegswesens. Voran steht
die Grundfrage: Was heißt hier „deutsch“? Bedeutet es den deutschen Staat als Reich oder
als Land? Ist das Kriegswesen im heutigen Deutschland Reichs= oder Landesangelegenheit
oder beides? Und, sofern letzteres zutreffen sollte, wie trennen sich auf diesem Gebiete die
Zuständigkeiten von Reich und Land?
Daß schon der Begriff des Bundesstaates die Forderung einer ganz bestimmten, so und
nicht anders angelegten Heeresverfassung in sich trüge, wird man nicht behaupten dürfen. Viel-
mehr sind im Bundesstaate, ohne Beeinträchtigung seines Wesens, verschiedenartige Ge-
staltungen der Rechtsordnung des Kriegswesens denkbar und dagewesen. Nur eines wird
man als im voraus feststehend, weil aus dem Begriff des Bundesstaates (vgl. oben S. 16, 68)
folgend, annehmen müssen: die Zentralgewalt des Bundesstaates muß das Recht haben, eigene
Kriege zu führen, muß in diesem Sinne die Kriegshoheit (das ius belli ac pacis) besitzen; besitzt
sie sie nicht, so würde ein wesentliches Erfordernis der Souveränetät mangeln, Souveränetät
aber setzt der Begriff „Bundesstaat“ für die Zentralgewalt voraus. — Im übrigen kann die
Struktur des Heereswesens sehr verschiedene Grundformen zeigen. Erfahrungsgemäß möglich
sind zwei solche Grundformen. Die Heeresverfassung kann streng unitarisch und zentralistisch
geartet sein; dann gibt es nur eine bewaffnete Macht, und diese ist Anstalt des Bundes,
nicht der Gliedstaaten; ihre Organisation, Unterhaltung, Leitung, Verwendung ist an allen
Punkten eigene und unmittelbare Verwaltung der Zentral-, nicht der partikularen Gewalt
(so u. a. stehendes Heer und Flotte der Vereinigten Staaten von Amerika, abgesehen von den
einzelstaatlichen „Milizen“). Nach diesem System steht der Bundesgewalt nicht nur das jus
belli, sondern die Militärhoheit in vollstem Umfange ausschließlich zu. In geradem
Gegensatze hierzu kann nun aber die Kriegsverfassung auch föderalistisch, ja partikularistisch auf-
gebaut sein: die Bundesgewalt darf Kriege führen, aber sie unterhält zu diesem Zwecke keine
eigenen Truppen. Die vorhandenen Streitkräfte sind nicht Bundesanstalt, sondern Einrich-
tungen der Einzelstaaten; die Bundesgewalt schlägt ihre Schlachten mit dem Schwert der
Einzelstaaten, welches die letzteren ihr im Kriegsfalle zur Verfügung zu stellen haben; das
„Bundesheer“ ist keine rechtliche Einheit, sondern nur die zusammenfassende Bezeichnung für
die „Kontingente“ der Einzelstaaten. Diese Gestaltung, das System des „Kontingents-
heeres“, besitzt für Deutschland, einstweilen noch dahingestellt, inwieweit sie dem geltenden
Rechte zugrunde liegt, jedenfalls eine große geschichtliche Bedeutung: sie galt im alten
Reiche (vgl. oben Bd. 1 S. 116, 117, 167, 168) wie im Deutschen Bunde (s. oben § 6, S. 36),
und selbst die sonst so ausgesprochen unitarisch angelegte Reichsverfassung der Frankfurter Pauls-
kirche gedachte in diesem Punkte von dem überlieferten Föderalismus nicht abzugehen. „Der
Reichsgewalt steht die gesamte bewaffnete Macht Deutschlands zur Verfügung.“ „Das
Reichsheer besteht aus der gesamten, zum Zwecke des Kriegs bestimmten Landmacht der
einzelnen deutschen Staaten.“ (Reichsverfassung von 1849, Is 11, 12.) Auch
nach den preußischen Grundzügen vom 10. Juni 1866 (s. oben S. 54) ist die Landmacht des
1 Laband 4, insbes. #5 95—100; Meyer-Anschütz ssF 195 ff.; Meyer-Dochow,
Deutsches Verwaltungsrecht #§ 176 ff.; v. Seydel, Komm. S. 310 1 Haenel 1 472 ff.;
Zorn, Reichsstaatsr. 1 189 ff., 2 §§# 37 ff.; Arndt, Reichsstaatsr. I5 45—57; Brockhaus,
Das deutsche Heer und die Kontingente der Einzelstaaten (1888); Loening, Grundzüge der
N. (2. Aufl. 1906) S. 56 ff., 105 ff.; W. F. Müller, Die Teilung der Militärgewalt im
deutschen Bundesstaate mit bes. Berücksichtigung Sachsens (Leipz. Diss., 1905); Gau, Die Kon-
tingentsherrlichkeit nach deutschem Reichsrecht (1904); Gümbel in Hirths Annal. 1899, 131 ff.;
Frhr. Marschall v. Bieberstein, Verantwortlichkeit und Gegenzeichnung bei An-
urdnungen des obersten Kriegsherrn (1911); H. Jost, Die staatsrechtlichen Theorien über die
Natur des deutschen Heeres nach der Reichsverfassung (Leipz. Diss., 1908).