Deutsches Staatsrecht. 177
„einheitlich“ macht, soweit man juristische Konstruktionen auf ihn gründen will, nicht viel zu
geben. Wo die Verfassung jene Worte verwendet, meint sie damit meistens nicht rechtliche,
d. h. formale Einheit, sondern Einheit in der Sache: einen Zustand, welcher praktisch-
politisch (wissenschaftlich, technisch) die Wirkung der Einheit erzielt. Man denke an das „ein-
heitliche Netz“ der deutschen Eisenbahnen (Art. 42), an die „einheitliche
Handelsmarine“, als welche die deutschen Kauffahrteischiffe erscheinen sollen (Art. 54).
Bedeutet an diesen Stellen „Einheit“ dasselbe wie in den Art. 53 (Kriegsmarine; s. oben II)
und 48 (Post und Telegraphie), d. b. die rechtliche Einheit des Reichsinstituts? Gewiß nicht.
Damit scheidet das Wort „einheitlich“ in Art. 63 Abs. 1 aus den Beweisgründen der unitarischen
Ansicht aus. Um so mehr, als die Ausdrucksweise der RV. in dem weiteren Wortlaut des Art. 63
und der folgenden Artikel jene Ansicht geradezu widerlegt. Gerade wenn man den Wortlaut
der Verfassung und nur ihn für entscheidend erachtet, senkt sich die Wagschale zugunsten des
Kontingentsprinzips. Gleich der nächste, zweite, sowie der fünfte Absatz des Art. 63 reden von
der „Königlich Preußischen Armee“, welche offenbar als fortdauernde organische Einheit gedacht
ist. Und was diesem größten der Kontingente recht, ist den anderen billig: auch sie werden als
fortbestehend vorausgesetzt, als Einrichtungen des geltenden Rechts anerkannt. Die deutschen
Fürsten und Senate der Freien Städte erscheinen im Verfassungstext als Herren „ihrer Kon-
tingente“ (Art. 66 Abs. 1), „ihrer eigenen Truppen“ (das. Abs. 2), — ein Zeugnis dafür, daß
die Verfassung die Militärhoheitsrechte der Einzelstaaten nicht, wie im Bereiche der Kriegs-
marine, schlechtweg hat aufheben wollen.
Und diesem Wortlaut der Verfassung entspricht ihr Sinn, entspricht auch die tatsächliche
Entwicklung, Gestaltung und Handhabung der Heeresverwaltung auf Grund der Verfassung.
Das Kontingentsprinzip bildet in der deutschen Heeresverfassung
historisch und logisch die Grundlage, den Ausgangspunkt. Die par-
tikularen Kontingente sind bis auf den heutigen Tag nicht zu der staatsrechtlichen Einheit einer
Reichsarmee verschmolzen worden. Es gibt kein Reichskriegsministerium mit einer dem Reichs-
marineamt entsprechenden Zuständigkeit, sondern nur Landeskriegsministerien. Auf den
Fahnen und Abzeichen des Heeres erblicken wir nur Landes-, nicht die Reichsfarben; erst seit
1897 tragen die deutschen Soldaten auf Grund einer Vereinbarung der Kontingentsherren
(Laband 4 61) neben der Landes- auch die Reichskokarde, eine Tatsache, welche nicht als
Ausdruck einer vor sich gegangenen Verschiebung der staatsrechtlichen Verhältnisse, vielmehr
nur als Anerkenntnis dessen aufzufassen ist, daß in Angelegenheiten des Landheeres die Militär-
hoheit weder dem Reiche allein noch den Einzelstaaten allein zusteht, sondern daß sie zwischen
ihnen verteilt ist.
Es handelt sich um eine Frage der Kompetenzverteilung zwischen Reich und Land, eine
Frage, welche, wie jede dieser Art, zu beantworten ist nach Maßgabe des (oben S. 70 erörterten)
Grundsatzes, daß dem Reiche nur diejenigen Kompetenzen gebühren, welche seine Verfassung
ihm überträgt, den Einzelstaaten aber alle, welche die RV. ihnen nicht entzieht.
Es ist also zu untersuchen, in welchem Umfange eine solche Entziehung zu Lasten der
Landes-, zugunsten der Reichszuständigkeit stattgefunden hat. Erst das Ergebnis dieser Unter-
suchung ermöglicht ein Gesamturteil darüber, inwieweit in der Rechts- und Verwaltungsordnung
des deutschen Heereswesens formal und, wenn nicht formal, so doch sachlich, Einheit her-
gestellt und gewährleistet ist. —
Auf die Reichsgewalt ist zunächst übergegangen:
I. die Gesetzgebungshoheit in Militärsachen. Daß diese Kompetenz dem
Reiche gehört, steht in Art. 4 Nr. 14 RV.; daß sie ihm ausschließlich gehört, und daß
damit das Recht der Einzelstaaten, Gesetze militärischen Inhalts zu erlassen, aufgehoben ist,
folgt aus Art. 61. Die dort angeordnete „.ungesäumte Einführung der gesamten preußischen
Militärgesetzgebung im ganzen Reiche“ bedeutet, daß unmittelbar nach dem Inkrafttreten
der RV. das partikulare Militärrecht außerhalb Preußens aufgehoben und durch die preußischen
Militärgesetze ersetzt werden sollte; letztere sollen überall „eingeführt“ werden, nicht als Reichs-
gesetze, auch nicht als preußische Gesetze, sondern als Gesetze des betreffenden Landes: in Sachsen
als sächsische, in Baden als badische usw., kurz als übereinstimmendes Landes-
recht, aber mit Reichsgesetzeskraft, d. h. unter Aufhebung der Befugnis der Landes-
Enzyklopädie der Rechtswifsenschaft. 7. der Neubaerb. 2. Aufl. Band IV. 12