Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Verwaltungsrecht. 201 
1. Mit dem Worte Selbstverwaltung werden heute bei uns zwei verschiedene Begriffe 
verbunden: ein politischer Begriff und ein Rechtsbegriff 1. 
à) Jener ist abgezogen von den Verwaltungseinrichtungen Englands, die seit dem 
18. Jahrhundert als sellgovernment bezeichnet werden. Das Wesen dieses englischen Re- 
gierungssystemes (Selbstregierung des Volkes) besteht darin, daß die Verwaltung unter ent- 
scheidender Mitwirkung des Volkes bzw. seiner Vertreter, nicht allein durch den vom Volke ver- 
schiedenen Träger der Staatsgewalt und den Dienstbefehlen dieses untertane Beamte geführt 
wird. Es ist verwirklicht sowohl in der Zentral- wie in der Lokalinstanz: in jener dadurch, 
daß das aus Wahlen hervorgegangene Parlament, anders als die Volksvertretung auf dem 
Kontinent, nicht bloß Gesetzgebungs-, sondern auch höchstes Verwaltungsorgan ist, dessen Zu- 
stimmung der König zu allen wichtigeren Staatsakten bedarf; in dieser in der Weise, daß An- 
gelegenheiten der lokalen Verwaltung, zu der nach englischer Auffassung auch die Rechtsprechung 
gehört, nicht durch berufsmäßige Staatsbeamte, sondern durch Bürger verrichtet werden, die 
in rechtlicher wie wirtschaftlicher Hinsicht von dem Staatsoberhaupte und dessen Behörden un- 
abhängig und lediglich durch die Gesetze gebunden sind. Die Hauptträger dieses lokalen sell- 
government waren zunächst die Friedensrichter, in deren Händen sich die niedere Strafgerichts- 
barkeit und Polizei befand. Sie wurden von der Krone ernannt, verwalteten ihre Stellen als 
Ehrenämter und hatten, unabhängig von jedem Einflusse der jeweiligen königlichen Zentral- 
regierung, nur in den Gesetzen eine Richtschnur für ihre Tätigkeit. Dann hat die Gesetzgebung 
fortschreitend immer neue Funktionen auf die Friedensrichter gehäuft, wie auch weitere lokale 
Verwaltungsstellen nach dem Vorbilde des Friedensrichteramtes ins Leben gerufen und ist 
so zu einer geschlossenen Kreis= und Stadtverwaltung durch Ehrenämter gelangt. An diese 
Einrichtungen des älteren englischen selsgovernment, die in England selbst im 19. Jahrhundert 
wesentliche Modifikationen dadurch erfahren haben, daß wichtige Zweige der Lokalverwaltung 
ad hoc gebildeten Verbänden überwiesen sind, die sich zur Lösung ihrer Aufgaben zum Teil 
besoldeter Beamten bedienen — womit das englische Verwaltungssystem dem kontinentalen 
erheblich näher gerückt ist —, hat Gneist in seinen zahlreichen Arbeiten über das englische 
Verwaltungssystem angeknüpft, durch die das Wesen dieses Systemes in Deutschland erst bekannt 
geworden ist. Aus ihnen hat er seine berühmte Definition entwickelt, nach der Selbstver- 
waltung die Verwaltung von Staatsgeschäften durch Ehrenämter 
ist und den Gegensatz zur Selbstverwaltung die Verwaltung durch besoldete Berufs- 
beamte bildet. Dieser Begriff Selbstverwaltung ist aber ein rein politischer; er bezeichnet ein 
gesetzgeberisches Prinzip, welches der Gestaltung der Verwaltungsorganisation zugrunde liegt. 
Und auf die Formulierung eines solchen hatte es Gneist auch in erster Linie abgesehen. 
War doch der Zweck, den er mit seinen Darstellungen des englischen Regierungssystemes ver- 
folgte, mehr ein politischer denn ein juristisch-dogmatischer. In der Heranziehung wirtschaftlich 
unabhängiger Bürger zum ehrenamtlichen Dienste für das Ganze sah er das in England best- 
erprobteste Mittel, die kollidierenden egoistischen Interessen der sozialen Klassen zu brechen und 
das Volk zur politischen Freiheit zu erziehen, und es galt ihm, die englischen Einrichtungen den 
Deutschen als das wahre Muster konstitutioneller Freiheit vorzuführen, damit sie in Anlehnung 
an dieses und nicht an ihm verdorben erscheinende französische Verhältnisse ihr eigenes Staats- 
leben gestalteten. Bald ist denn auch der Gneistsche Selbstverwaltungsbegriff zum Schlag- 
worte politischer Parteibestrebungen geworden, und in vielen deutschen Staaten wurde als ein 
Hauptziel der tiefgreifenden Verwaltungsreformen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- 
hunderts vorgenommen wurden, Einführung bzw. Ausdehnung der Selbstverwaltung bezeichnet 
und damit Verwaltung durch Ehrenämter gemeint. Auch heute noch wird das Wort Selbstver- 
waltung in der juristischen Literatur, in der Tagespresse und in parlamentarischen Verhand- 
lungen häufig im Gneist sshen Sinne gebraucht; besonders ist es üblich, die unbesoldeten Amter 
der preußischen Amtsvorsteher, desgleichen die unbesoldeten Stellen in den preußischen Pro- 
vinzialräten, Bezirks= und Kreisausschüssen, in den badischen Bezirksräten, den sächsischen Kreis- 
— 
  
Eingehender Literaturnachweis über das Institut der Selbstverwaltung bei Schoen 
Recht d. Kommunalverbände 11; dazu noch Hatschek, S. in politischer und juristischer Bedeutung 
eidelberg 18998, Derselbe im Verw. Arch. 9, 319, Lamp, Das Problem der städtischen S. 
eipzig 1905, u. Preuß, Die kommunale S., Hanbb. d. Politik 1, 198.
	        
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