Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

210 Paul Schoen. 
privatem und öffentlichem Rechte wurde aber in dem germanischen Rechte des Mittelalters 
nicht gemacht. So war grundsätzlich jeder Untertan berechtigt, gegen den Landesherrn Klage 
zu erheben, sowohl wegen aller privatrechtlichen Ansprüche wie auch wegen rechtswidriger 
Ausübung der dem Landesherrn zustehenden öffentlichen Gewalt, der Landeshoheit. Und 
zwar war die Klage gegen den Landesherrn nicht nur gegeben wegen eigener hoheitlicher Hand- 
lungen, sonderm auch aus Amtshandlungen der in seinem Namen und Auftrage fungierenden 
Beamten. Voraussetzung für die Erhebung solcher Klagen war lediglich die Behauptung 
des Klägers, daß er in seinen Rechten verletzt sei; und eine solche Verletzung konnte entweder 
darin liegen, daß der Landesherr sich nicht in den Grenzen der ihm zustehenden Hoheitsrechte 
hielt, oder darin, daß der an sich rechtmäßigen Ausübung des Hoheitsrechtes ein „wohlerworbenes“ 
Recht des Klägers gegenüberstand. Denn die Landeshoheit war nicht eine allgemeine, nach 
beliebigen Richtungen hin entfaltbare Gewalt wie die moderne Staatsgewalt, sondern ein 
Konglomerat einzelner bestimmter Hoheitsrechte, deren jedes, und zwar vielfach zu verschiedener 
Zeit wie aus verschiedenem Rechtsgrunde, besonders erworben war, und dessen Erwerb im Be- 
streitungsfalle sowohl dem Reiche gegenüber, von dem es notwendig abgeleitet war, wie den 
Untertanen gegenüber, in deren Freiheit es eingriff, nachgewiesen werden mußte. Und über- 
dies galt der Grundsatz, daß wohlerworbene, d. h. auf besonderem Rechtstitel beruhende Rechte 
des einzelnen auch durch Ausübung von Hoheitsrechten nicht verletzt werden durften. Zuständig 
zur Annahme und Entscheidung der Klagen der Untertanen gegen die Landesherren wegen 
rechtswidriger Ausübung der obrigkeitlichen Gewalt waren nach Reichsrecht die Reichsgerichte, 
seit 1495 das Reichskammergericht und dann auch der Reichshofrat, der jenem bald mit kon- 
kurrierender Gerichtsbarkeit zur Seite trat. Die Reichsgerichte waren also berufen, die Ver- 
waltung in den Territorien auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu kontrollieren und hätten ihr gegen- 
über eine ähnliche Stellung einnehmen können wie heute die Verwaltungsgerichte. Allein 
tatsächlich hatte die reichsrechtliche Zusicherung dieser Rechtskontrolle durch die Reichsgerichte 
nur einen sehr problematischen Wert. Nur gegen die kleinen Landesherren konnten Klagen 
mit Aussicht auf Erfolg angebracht und Urteile der Reichsgerichte vollstreckt werden. Die 
mächtigeren Landesherren verlegten auf alle mögliche Weise ihren Untertanen den Weg an 
die Reichsgerichte, und diese waren zu schwach, die Untertanen in der Ausübung ihres reichs- 
gesetzlichen Klagerechtes zu schützen oder gar, wenn es zu einem Urteilsspruche kam, diesen zu 
vollstrecken. Tatsächlich war die Verwaltung in den größeren Territorien frei von jeder reichs- 
gerichtlichen Kontrolle. Bei den Landesgerichten aber konnten erst recht keine Klagen gegen 
den Landesherrn oder dessen Beamte wegen Ausübung ihrer Amtsbefugnisse angebracht 
werden, denn seiner eigenen Gerichtsgewalt war der Landesherr nicht unterworfen. So ent- 
schied in diesen Territorien tatsächlich allein der Landesherr selbst über die Rechtmäßigkeit aller 
Verwaltungsakte, und Untertanen, die sich durch Amtshandlungen der Beamten verletzt fühlten, 
konnten sich nur mit Beschwerden an die höheren Instanzen und schließlich an den Landesherrn 
wenden. Nur für die Verwaltung der Kammer- und Domenensachen gelangten seit dem 
16. Jahrhundert fast überall abweichende Grundsätze zur Anerkennung, indem die Landes- 
herren sich für die aus diesen entstehenden Streitigkeiten bald ausdrücklich in Landtagsrezessen, 
bald gewohnheitsmäßig ihren eigenen Gerichten unterwarfen. Allein für zuständig zur Ent- 
scheidung dieser Streitigkeiten wurden regelmäßig nicht die ordentlichen Zivilgerichte erklärt, 
sondern die landesherrlichen Rent- und Amtskammem, welche auch die Domänenverwaltung 
zu führen hatten (Kammerzustiz, Administrativjustiz; vgl. unten S. 226). 
II. In diesen größeren Territorien, deren Landesherren ihre Verwaltung von jeder wirk- 
samen Kontrolle durch die Reichsjustiz befreiten, ist dann auch zuerst jenes Staatswesen entstanden, 
das die Nachlebenden als Polizeistaat charakterisieren. Den alten landesherrlichen Hoheits- 
rechten gesellte sich im 16. Jahrhundert ein neues, das jus politiae hinzu, das an Bedeutung 
für die Ausgestaltung der landesherrlichen Gewalt bald alle anderen übertraf. Es verpflichtete 
die Landesherren, für den guten Zustand des Gemeinwesens zu sorgen, und berechtigte sie, alles 
anzuordnen und den Untertanen gegenüber eventuell mit Zwang durchzusetzen, was sie im 
Interesse jenes für notwendig erachteten. Es waren überhaupt keine Rechtsschranken vor- 
handen für die Tätigkeit und Gewaltanwendung, die die Landesherren unter dem Titel der 
Polizei entfalten konnten und tatsächlich entwickelten; gehörte doch nach der immer mehr zur
	        
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