Deutsches Staatsrecht. 23
Souveränetät ist also Unabhängigkeit des Staates von Mächten, die über und außer ihm
stehen. Gegen die theoretische und praktisch-politische Berechtigung des Begriffes ist neuer-
dings (von Preuß, Affolter u. a.) vielfach polemisiert worden. Sicher mit Unrecht,
sofem diese Einwände sich auf das Dasein der Staatengemeinschaft und des Völkerrechts
gründen. Auf das Wesen des Völkerrechts, auf den Grund und die Art seiner Verpflichtungs-
kraft kann hier nicht näher eingegangen werden. So viel aber ist sicher, daß die völkerrecht-
lichen Normen nicht Willensäußerungen einer über den einzelnen Staaten stehenden Weltmacht,
einer civitas maxima darstellen. Das Völkerrecht involviert nicht die civitas maxima, negiert
sie vielmehr von vornherein und von Grund aus. Grundlage des Völkerrechts ist allerdings
eine soziale Erscheinung, ein Gemeinleben unter den Staaten, — denn keine Rechtsordnung
irgendwelcher Art und irgendeines Grades ist möglich, ohne ein Gemeinleben, welches sie
ordnet. Aber dieses zwischenstaatliche Gemeinleben, die „Staatengemeinschaft“, ist nicht zu
einer mit universaler Herrschermacht ausgestatteten Gesamtpersönlichkeit organisiert. Es ist
eine Gemeinschaft, kein Gemeinwesen. Das Völkerrecht: ein Gemeinwille, der nicht mehr
und nichts anderes ist als der Wille aller, der das einzelne Glied der Gemeinschaft, den Staat,
nur bindet, soweit und solange er von letzterem als sein eigener und der Gemeinwille anerkannt
wird. Von solcher Art ist das Völkerrecht. Es gilt für den einzelnen Staat nicht vermöge
Unterwerfung unter eine höhere Herrschermacht, sondern kraft Selbstbindung an einen Gemein-
willen, der nicht anders erzeugt werden kann als durch das freie Einverständnis und die An-
erkennung aller. Das Völkerrecht bindet, aber es unterwirft nicht. Es schmälert daher begriff-
lich die Souveränetät der einzelnen Staaten um keines Haares Breite. Was vom Völkerrecht
überhaupt, das gilt auch von den auf seinen Normen beruhenden konkreten Rechtsverhältnissen,
insbesondere den Staatsverträgen. Vertragsmäßige Leistungen, die dem einen Staate dem
anderen gegenüber obliegen, sind nicht Pflichten, die von außen und oben her auferlegt werden,
sondern Pflichten, die der Verpflichtete sich selbst auferlegt, Selbstbeschränkungen seiner Freiheit,
Betätigung, nicht Preisgabe seines freien Selbstbestimmungsrechts. So läßt sich auch Wesen
und Inhalt der Staatsverträge dem Souveränetätsbegriff nicht entgegenhalten; das eine ver-
trägt sich mit dem anderen vollkommen, — wobei hier noch ganz abgesehen wird von dem
Rechtsinstitut der clausula rebus sic stantibus 1. Diese Klausel, welche „bei Staatsverträgen,
die Leistungen bedingen, stillschweigend angenommen wird“ (Bismarck, Gedanken und
Erinnerungen 2 258), redet deutlich genug von der Art und dem Maß der Verpflichtungskraft
völkerrechtlicher Verträge: letztere wollen die Kontrahenten nur soweit und solange binden,
als jeder von ihnen kraft seines souveränen Ermessens die fernere Erfüllung des Vertrages für
vereinbar erachtet mit seinen Lebensinteressen und der Erfüllung des ihm geschichtlich ge-
wordenen Berufs (Preußen 18661). Das Völkerrecht mutet keinem Staate zu, Verträgen auch
dann noch Treue zu halten, wenn, bei inmittelst geänderter Weltlage, die Treue den,
der sie hielte, erdrücken, ja auch nur abdrängen würde von dem Wege, den er selbst als den
rechten sich vorgezeichnet hat. Schließlich kann jeder Staat seiner Vertragslasten sich ent-
ledigen dadurch, daß er zum Schwert greift. Der Krieg zerreißt alle zwischen den Gegne#n
geschlossenen völkerrechtlichen Verträge.
Der völkerrechtliche Vertrag bindet, und er bindet, wie vorstehend gezeigt, nicht un-
beschränkt, jedenfalls aber unterwirft er nicht, — es sei denn, daß es Wille und
Absicht der Vertragsteile war, ein Unterwerfungsverhältnis zu begründen. Nach Art und Lage
des Falles muß entschieden werden, ob alsdann bei dem Staate, der sich in Abhängigkeit von
einem anderen Staate begeben hat, Souveränetät noch oder nicht mehr vorhanden ist. Zweierlei
erscheint gewiß: einmal kann nicht geleugnet werden, daß ein Staat durch seinen eigenen Willen
unwiderruflich auf seine Souveränetät zugunsten eines Dritten, eines ihm nunmehr über-
geordneten Staatswesens verzichten kann, — und zweitens, daß ein nur teilweiser
Verzicht auf die Souveränetät undenkbar und unvollziehbar ist. Bedeutet, wie gezeigt,
Souveränetät höchste, nur durch sich selbst bestimmte, nach außen und innen unabhängige Macht,
so ist klar, daß die Souveränetät sich weder teilen noch beschränken läßt; sie teilen heißt sie ver-
1 E. Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus
(1911).