Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

292 Paul Schoen. 
überall Theorie wie Praxis beschäftigt haben. Auch ist sie eine in Deutschland durchaus selbständig 
entwickelte Einrichtung. Der Vorgang Frankreichs, welches durch das Gesetz v. 28 Pluviöse VIII 
(oben S. 227) in Verbindung mit dem Neuaufbau der ganzen Verwaltungsorganisation eine 
Rechtsprechung in Verwaltungssachen durch Verwaltungsbehörden eingeführt hatte, ist zweifel- 
los nicht ohne Einfluß geblieben auf deutsche Bestrebungen. Allein die ganze positive Aus- 
gestaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit: Organisation, Stellung und Zuständigkeitsabgrenzung 
der Verwaltungsgerichte ist in Deutschland in durchaus anderer Weise erfolgt als in Frankreich 
(vgl. E. v. Meier a. a. O. 742). 
Das treibende Moment, welches zur Einrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit geführt 
hat, war das Bedürfnis nach einem besseren Rechtsschutze des Gewaltunterworfenen gegen 
Verletzungen durch die Verwaltung, als das Rechtsmittel der Beschwerde ihn gewährte. Wird. 
auf dieses hin über die Sache doch auch wieder nur durch eine durch die Interessen der Ver- 
waltung gebundene Verwaltungsbehörde, und zwar gewöhnlich im schriftlichen und geheimen 
Verfahren auf Grund der Akten entschieden — und liegt daher stets die Gefahr oder doch der 
Gedanke nahe, daß die Entscheidung der Beschwerdeinstanz eine parteische ist. Dieser Mangel 
des Beschwerdeverfahrens kam in Deutschland erst beim Ausbau des Rechtsstaates allgemein. 
zum Bewußtsein. Auch in dem Polizeistaate hatte der Untertan gegen Eingriffe der öffentlichen 
Gewalt nur die Beschwerde an die höhere Verwaltungsinstanz gehabt, denn der Rechtsschutz, 
den das Reich durch seine Gerichte zusagte, hatte nur in kleineren Territorien praktische Be- 
deutung (oben S. 210). Allein das Unzureichende dieses Rechtsbehelfes wurde aus ver- 
schiedenen Gründen weniger empfunden: der Untertan hatte bei dem Mangel eines Verwaltungs- 
rechtes überhaupt keine bestimmten abgegrenzten Rechte gegenüber der Verwaltung, deren Be- 
obachtung er von dieser verlangen konnte, und eine unparteiische Entscheidung seiner Be- 
schwerden schien wenigstens bis zu einem gewissen Grade sichergestellt durch die kollegialische 
Organisation der oberen und höchsten Verwaltungsbehörden. Es kam hinzu, daß man einen 
besseren Schutz von Recht und Freiheit des einzelnen, als ihn der Zug an die höheren Verwaltungs- 
instanzen gewährte, überhaupt kaum kannte. Auch die Rechtsprechung in Zivilstreitigkeiten und 
Strafsachen war keine unbedingt unparteiische (loben S. 211). Mit der Rechtsschutzgewährung 
in diesen Justizsachen waren meist dieselben Behörden betraut, die als Verwaltungsbehörden 
fungierten, und selbst wo, wie besonders in Preußen, Verwaltung und Justiz bereits in weitem 
Umfange getrennt war, waren die Gerichte Eingriffen und Anweisungen kaum weniger aus- 
gesetzt als die Verwaltungsbehörden. Erst am Ausgange des 18. Jahrhunderts wurde die Un- 
abhängigkeit der Gerichte grundsätzlich anerkannt (oben S. 211). 
Im 19. Jahrhundert traten in allen diesen Verhältnissen wesentliche Veränderungen ein. 
Auch außerhalb Preußens wurde die Trennung der Justiz von der Verwaltung durchgeführt 
(oben S. 227) und Hand in Hand mit dieser das Prinzip der Unabhängigkeit der Gerichte überall 
realisiert. Das Verfahren vor den Gerichten wurde überall gegen äußere Beeinflussungen 
sichergestellt und bot die Garantien, eine unparteiische und gerechte Entscheidung zu erlangen. 
Während aber so das Verfahren vor den Gerichten zugunsten der Parteien gebessert wurde, 
erfuhr das Beschwerdeverfahren vor den Verwaltungsbehörden noch weitere Umgestaltungen 
zu ihren Ungunsten. Der Ersatz der kollegialischen Zentralbehörden durch bureaumäßig orga- 
nisierte (oben S. 227, 228) beseitigte das wichtigste Sicherungsmittel unparteüscher, letztinstanzlicher 
Beschwerdeentscheidungen. Für die Entscheidung aller in einem Ressort angebrachten Be- 
schwerden wurde schlechthin maßgebend die Auffassung des an der Spitze dieses stehenden 
Ministers. Und daran änderten auch der Übergang der Staaten zur konstitutionellen Verfassung 
und die Einführung der Ministerverantwortlichkeit nichts. Im Gegenteil; diese brachte die Be- 
hörden in eine nur noch größere Abhängigkeit vom Minister, und es entstand die neue Gefahr, 
oder, was ebenso nachteilig war, doch wenigstens in weiten Schichten der Bevölkerung der 
Glaube, daß nunmehr die Verwaltung überall da, wo politische Interessen im Spiele waren, 
überhaupt nicht mehr nach Rechtsgrundsätzen, sondem systematisch nach den Interessen der je- 
weils herrschenden Partei gehandhabt würde. Der Ubergang der Staaten zum konstitutionellen 
Systeme war nur geeignet, das Fehlen zuverlässiger Rechtsschutzeinrichtungen im Gebiete des. 
öffentlichen Rechtes noch mehr empfinden zu lassen und den auf Schaffung solcher abzielenden 
Bewegungen neuen Nährstoff zuzuführen.
	        
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