294 Paul Schoen.
man sich durchweg zum Ausgangspunkte der Gneist schen Ideen: Rechtskontrolle der Ver-
waltung durch den Gerichten nachgebildete und ihnen gleichgestellte, aber doch im Verwaltungs-
organismus stehende Organe — bekannt hat, waren die folgenden: Man mußte zunächst Gneist
beipflichten, wenn er die Befürchtung aussprach, daß der deutsche Richterstand in seiner vor-
wiegend privat= und strafrechtlichen Schulung und Berufserfahrung den Aufgaben nicht ge-
wachsen sein möchte, vor die eine Zuweisung der Rechtskontrolle über die Verwaltung an die
Gerichte ihn stellen würde; nur der kann die in dauerndem Flusse befindliche Verwaltungs-
gesetzgebung laufend beherrschen, der ihr Studium zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat und
täglich ihre Anwendung übt. Allein nicht nur die wünschenswerte Rechtskenntnis, auch die zur
Entscheidung mancher Verwaltungsstreitigkeiten erforderliche Sachkenntnis wird dem Zivil-
und Strafrichter häufig fehlen; ist doch bei zahlreichen dieser Streitigkeiten weniger die Rechts-
als die Tatfrage streitig. So, wenn es sich darum handelt, ob bei Konzessionserteilungen die Be-
dürfnisfrage (Gew O. 8§ 33 3) oder die Frage der Zuverlässigkeit in sittlicher, artistischer und finan-
zieller Hinsicht (das. 32 1) zu bejahen ist, ob die Voraussetzungen für den Eintritt der öffentlichen
Armenpflege gegeben waren, ob die Erweiterung des Schulhauses oder die Anstellung eines
weiteren Lehrers, die die Aussichtsbehörde verlangt hat, notwendig war, ob „die tatsächlichen
Voraussetzungen“ vorgelegen haben, wolche die Polizei zum Erlasse einer Verfügung berechtigten
(Pr. LVG. F 1278). Natürlich kann alle diese Fragen auf Grund umständlicher Beweiserhebung,
insbesondere Vernehmung technischer Sachverständiger, auch der Zivilrichter beantworten.
Leicht und sicher aber und vor allem ebenmäßig können sie nur von dem beurteilt werden, der
in der laufenden Verwaltung steht und weiß, wie sie hier gewöhnlich behandelt werden. Endlich
war man sich auch darüber einig, daß die Unterstellung der Verwaltung unter die Justiz nur
lähmend auf jene wirken könnte, ihren raschen Gang hindern und ihr die Selbständigkeit nehmen
würde, deren sie bedurfte, um ihre Aufgaben zu erfüllen.
Zuerst ist nach den vorerwähnten Grundsätzen eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, wenn
auch zunächst nur in bescheidenen Grenzen, eingerichtet worden in Baden (G. v. 5. 10. 1863,
abg. u. erw. durch G. v. 24. 2. 1880, 14. 6C. 1884, 30. 5. 1899), dann in ausgedehnter
Weise in Preußen (1872—1883; s. oben S. 229 .), und weiter z! sie bis jetzt eingeführt in
Hessen (Kr.= u. ProvO. 1874, G. v. 11. 1. 1875; jetzt G. v. 8. 7. 1911), Württemberg
(G. v. 16. 12. 1876), Bayern (G. v. 8. 8. 1878), Anhalt (G. v 27. 3. 1888, 1. 3. 1890),
Braunschweig (G. v. 5. 3. 1895, 13. 11. 1896, 12. 4. 1898), Lippe (G. v. 9. 2. 1898, 7. 3.
1902), Kgr. Sachsen (G. v. 19. 7. 1900), Oldenburg (G. v. 9. 5. 1900) und in den thüringischen
Staaten (Meinigen, G. v. 15. 3. 1897; Koburg-Gotha, G. v. 14. 11. 1899; das Großherzogtum
Sachsen, Altenburg und die beiden Schwarzburgischen Fürstentümer haben durch Staats-
vertrag v. 15. 12. 1910 für die Verwaltungsrechtspflege eine Gerichtsgemeinschaft vereinbart,
der dann nachträglich auch Koburg-Gotha beigetreten ist, und ein gemeinsames „Thüringisches
Oberwerwaltungsgericht“ zu Jena errichtet; die beiden Reußischen Fürstentümer haben durch
Staatsvertrag mit dem Kgr. Sachsen v. 22. 1. 1911 ihre Verwaltung der Gerichtsbarkeit des kgl.
sächsischen Oberverwaltungsgerichtes unterstellt (Jahrb. d. öff. R. 6 290..) In Hamburg steht
die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit bevor (Arch. f. öff. R. 29. 1). Iu Elsaß-Lothringen
sind die Einrichtungen der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, und zwar unter erheblicher
Beschränkung ihres Umfanges, umgebildet: an die Stelle der Präfekturräte sind die Bezirksräte
(oben S. 234), an die des Staatsrates der Kaiserliche Rat getreten (Loening 783, Meyer-Auschütz
677); eine grundsätzliche Neugestaltung der reichsländischen Verwaltungsgerichtsbarkeit steht
jedoch in Aussicht (Rosenberg, Annalen des Deutschen Reichs 1906 811; Keetmann, Arch. f. öff.
R. 21, 71). Und endlich hat auch das Reich — abgesehen von den reichsländischen Einrichtungen —
Verwaltungsgerichte eingerichtet. Allerdings keine mit allgemeiner Kompetenz und auch
keinen zentralen Verwaltungsgerichtshof 1, sondern mehrere Spezialverwaltungsgerichte, die
gelegentlich der Regelung einzelner Verwaltungsmaterien durch verschiedene Gesetze bestellt
6. 8
1870 842), verstärkte Reichs—
sind. Es sind dies: das Bundesamt für Heimatwesen (RG. v. 30. 5. 1008
1 Über die Errichtung eines solchen vgl. die dem 29. u. 30. dtschn. Juristentage von Schultzen-
st ein, Thoma, Anschütz erstatteten Gutachten i. d. Verhandlungen 2, 4 bzw. 1 S. 51, 489