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sich eine unbegrenzte Beherrschung desselben durch den anderen Vertragschließenden entwickelt.
Nur ist es falsch, hierbei lediglich an den Arbeitsvertrag zu denken, durch den jemand seine ge-
samten Arbeitskräfte einem anderen zur Verfügung stellt (der Beamte dem Staat, der
Fabrikarbeiter dem Maschinenfabrikanten, das Dienstmädchen der Hausfrau). Indem die
Sozialdemokratie diesen Fehler macht, gelangt sie dazu, den Arbeitsvertrag als solchen zur Ursache
der sozialen Ubel zu machen, und konstruiert den angeblich unversöhnlichen Gegensatz zwischen
dem Arbeiter und dem Arbeitgeber, dem Kapitalisten, dem Ausbeuter. Sie läßt hierbei außer
Acht, daß es kaum jemand gibt, der nur Arbeiter, nicht auch Arbeitgeber ist; der nur Arbeits-
verträge schließt, in denen er seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt und nicht auch solche, in
denen er sich die Arbeitsleistung anderer dienstbar macht. Arbeitsverträge schließt ja nicht nur
der Fabrikarbeiter mit dem Unternehmer, sondern auch der Fabrikant selbst mit denen, die
ihm Bestellungen machen; der Handwerker mit seinen Kunden, der Privatlehrer mit dem Vater
seines Schülers, der Arzt mit der Krankenkasse und mit den einzelnen Klienten, der Wirt und
der Kleinkrämer mit den einzelnen Kunden. Der Unterschied ist nur, daß sie viele Arbeit-
geber haben, von denen sie abhängig sind, während der Fabrikarbeiter, der Kommis, der
technische Beamte usw. es nur mit einem zu tun hat. Der Unternehmer, die Handwerks-
meister, die Lehrer so gut wie diejenigen, an die man gewöhnlich bei dem Wort Arbeiter
denkt stellen einem anderen ihre Kraft zur Verfügung, um für die Leistung, zu der sie
dieser andere veranlaßt, ein Entgelt zu erhalten, mittels dessen sie ihren Lebensbedarf
ganz oder doch teilweise erwerben und, wenn möglich, ihren Besitz vermehren wollen. Und
während diejenigen, die „vermögend“ genug sind, um die Gelegenheit zum Abschluß günstiger
Arbeitsverträge abzuwarten, dieses Ziel leichter erreichen, müssen andere, die besitzlos sind,
also nicht abwarten können, ungünstige Arbeitsverträge abschließen, geringen
Lohn nehmen, zu Schleuderpreisen liefern, oder sie müssen Beschränkungen in ihrer persön-
lichen Freiheit über sich ergehen lassen (z. B. bei Ausübung ihres Wahlrechts, bei Wahl der
Gewerkschaft, der sie sich anschließen usw.), um nur nicht aus dem Arbeitsverhält-
nis ausgeschlossen zu werden, die Kündigung zu erhalten, die Kunden zu verlieren.
Nun gibt es freilich neben diesem regelmäßigen und häufigsten Fall der Leistung von Arbeit
zum Zweck der Gewinnerzielung auch noch andere Arbeit, die unentgeltlich geleistet wird (im
Ehrenamt) oder nicht auf Grund eines Arbeitsvertrags; sei es freiwillig auf Grund des Ehe-
bundes oder der Familienzusammengehörigkeit, sei es gezwungen (Sträflingsarbeit, militärischer
Dienst); und es gibt endlich auch Arbeit, die zwar gegen Entgelt, aber vielfach nicht wegen
des Entgelts geleistet wird (die künstlerische und wissenschaftliche Arbeit). Diese Ausnahmen
alle ändern aber nichts an dem regelmäßigen Sachverhalt, daß nämlich diemeiste Arbeit
auf Grund eines Arbeitsvertrags geleistet wird, so daß geradezu die
Existenz des Staates gefährdet ist, sowie Arbeitsverträge nicht geschlossen oder nicht ausgeführt
werden können; und daß die meisten Arbeiter nur durch das Entgelt, das
ihnen auf Grund des Arbeitsvertrags zusteht, sich undihre Familie
erhalten können, also mit ihrer ganzen Existenz auf die ungestörte
Möglichkeit des Abschlusses von Arbeitsverträgen und auf die
Bedingungen dieser Verträge angewiesen sind.
Die Aufgaben, die das Recht für den Arbeitsvertrag zu lösen hat, ergeben sich aus dieser
seiner Bedeutung als Grundlage der gesamten Staatsordnung. Sie sind für alle und jede Art
von Arbeitsverträgen wesentlich die gleichen und lassen sich kurz dahin zusammenfassen:
1. Wie jedes andere Rechtsgeschäft, dürfen auch die Arbeitsverträge, die abgeschlossen
werden sollen, keine Wirkungen äußern, durch die das öffentliche Interesse oder bestehende
Rechte Dritter, Unbeteiligter, verletzt werden.
2. Die Gebundenheit der Vertragschließenden, jene notwendige Folge des Arbeitsvertrags,
darf nur so weit gehen, als es die Verfolgung der Zwecke, welche jede der Parteien durch den
Arbeitsvertrag erreichen will, fordert; nicht aber so weit, daß sie einen der Vertragschließenden
der schrankenlosen Gewalt des anderen unterwirft und an Erfüllung seiner Aufgaben im Staat und
als Familienvater hindert.
3. Das Entgelt desjenigen Vertragschließenden, der seine Arbeitskraft zur Verfügung
stellt, muß ausreichen, um unter gewöhnlichen Verhältnissen und unter Berücksichtigung der