Gewerberecht. 321
bei vielen Arbeitsverhältnissen vorhandenen Möglichkeit des Abschlusses mehrfacher Arbeits-
verträge ihm und seinen unselbständigen Familienangehörigen den angemessenen Lebensunterhalt
zu beschaffen.
4. Die Auflösung des Arbeitsvertrags muß zwar beiden Vertragsteilen freistehen; gie
soll aber nicht in einer Art erfolgen, durch welche Rechte des anderen Vertragteils verletzt oder
berechtigte Interessen Dritter oder des Staats gefährdet werden.
8 2. Alle diese Sätze, die wir als Grundsätze des Arbeitsrechts bezeichnen können, gelten
für jedes auf Vertrag beruhende Arbeitsverhältnis. Sie werden aber, eben weil der Arbeits-
vertrag die Grundlage unserer gesamten Wirtschaftsordnung ist, gewissermaßen als selbstverständ-
lich befunden, und vom positiven Recht daher gewöhnlich nur dann zur Anwendung gebracht,
wenn die Folgen ihrer Nichtbeachtung bei dem einen oder anderen Arbeitsverhältnis besonders
scharf und schädlich in Erscheinung getreten sind.
1. So erscheint uns zunächst der Abschluß eines Arbeitsvertrags zwischen A. und B. als
eine rein private Angelegenheit dieser beiden. Daß dadurch weitere Interessen berührt werden
können, sehen wir freilich schon dann, wenn A. mittels der von ihm abgeschlossenen Arbeits-
verträge einen Betrieb führen will, der Feuersgefahr, Lärm, üblen Geruch usw. für die
Nachbarschaft mit sich bringt. Wie sehr aber auch das Staatswohl, die Allgemeinheit geschädigt
werden können, zeigt sich sofort, wenn wir an die Arbeitsverträge denken, die zur Erlangung
billiger Arbeitskräfte mit Kindern und Frauen, oder mit ausländischen, auf niederer Kultur-
stufe stehenden Arbeitern abgeschlossen werden. Gerade in letzterer Beziehung weist unser
Arbeitsrecht bekanntlich — man denke an den gesetzlich vollständig ungeregelten Import aus-
ländischer Feldarbeiter — noch klaffende Lücken auf.
2. Wenn ein Künstler sich durch Arbeitsvertrag verpflichtet, einen Bankier zu porträtieren,
oder wenn ein Schuhmacher verspricht, ein Paar Stiefel zu flicken, so ist kaum Gefahr, daß einer
der Vertragschließenden allzu sehr gebunden, in seiner staatsbürgerlichen Freiheit beschränkt wird.
Ganz anders liegt es aber bei dem Arbeitsvertrag, den ein Arbeiter oder Fabrikbeamter mit
einem „Riesenbetrieb“ 1 eingeht; und liegt es auch dann, wenn der Schuhmacher den Umständen
nach durchaus auf die Kundschaft und deshalb auf das Belieben eines begrenzten Bevölkerungs-
teils angewiesen ist. Zu beachten ist nun, daß überall da, wo in dieser Art die juristisch vor-
ausgesetzte Freiheit des Arbeitsvertrags illusorisch gemacht und das Arbeitsverhältnis
aus einem Rechtsverhältnis zu einem Gewaltsverhältnis ver-
kehrt wird, die von der Sozialdemokratie hervorgekehrte Frage nach dem Eigentum an
den Produktionsmitteln ganz nebensächlich ist. Nicht der Fabrikeigentümer — vielleicht eine
Frau, ein Kind, eine Vereinigung von Aktionären — und nicht die Firma, von der der kleine
Schuhmacher sein Leder auf Kredit bezog oder die Steppmaschine geliehen hat, hält sich den
Arbeiternehmer unterwürfig, sondern der Produktionsleiter — der Direktor der Fabrik oder des
Trusts, dem die Fabrik angehört, und der Vorsitzende des Vereins, Komitees usw., dem sich die
Kunden des kleinen Schuhmachers bei Auswahl dieses Lieferanten aus politischen, religiösen
oder sonstigen Gründen untergeordnet haben. Richtig ist freilich, daß alle diese aus der Macht-
verschiedenheit der Parteien erwachsenden Abhängigkeiten vom Recht nicht gewollt sind;
unser Arbeitsrecht weilt eben bisher noch im juristischen Begriffshimmel, wo alle diese, auf der
armen Erde so fühlbaren Dinge nicht gefühlt und deshalb weder verhindert noch geregelt
werden. Aufgabe dieser Darstellung ist aber vor allem der Hinweis auf das, was ist;
der Hinweis also auf die Lückenhaftigkeit des gegenwärtigen, in unsern
Gesetzbüchern niedergelegten Arbeitsrechts. Aufgabe des künftigen Arbeitsrechts wird sein,
das Arbeitsverhältnis zuimmunisieren, von jenen für das Wohl des Einzelnen und des
Staats gleich unerwünschten Nebenwirkungen zu befreien.
3. Ob der Arbeitsvertrag tatsächlich ausreicht, um den von den Parteien gewollten Zweck
herbeizuführen, d. h. ob der eine Vertragsteil die gewünschte Wirkung, das gewünschte Werk, und
1 Die Gewerbestatistik unterscheidet: Kleinbetriebe, die weniger als 6 Personen, Mittelbetriebe,
die weniger als 50 Personen, Großbetriebe, die weniger als 1000 Personen und Riesenbetriebe,
die mehr als 1000 Personen beschäftigen.
Enzyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band IV. 21