Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

322 Flesch und Hiller. 
der andere das angemessene Entgelt erhält, liegt der Hauptsache nach noch außer Bereich des 
Arbeitsrechts. Dies begnügt sich damit, gewisse Verträge über manche Arbeitsleistungen für 
rechtlich unbeachtlich oder auch für strafbar zu erklären, und gewisse Arbeitsmethoden oder die 
Anwendung gewisser Arbeitsstoffe zu verbieten. Insbesondere hat sich das Arbeitsrecht bis in die 
neueste Zeit nur wenig darum bekümmert, ob das Entgeld, welches der Arbeitende erhält, 
der Arbeitslohn, hinreicht, damit der Arbeitsvertrag seine Aufgabe erfüllen kann. Der Lohn 
muß den Arbeiter ernähren, auch wenn die Arbeit unterbrochen wird. Er brauchte aber bis 
vor 30 Jahren nur gezahlt zu werden, so lange der Arbeiter arbeitete, oder durch Schuld des 
Arbeitgebers an der Arbeit gehindert war. Erst durch die Zwangsversicherung (Kranken-, 
Unfall-, Invaliditätsversicherung) ist der Lohn wenigstens für einzelne Fälle der Arbeitsstockung 
und für einzelne Arten derjenigen Arbeitsverträge reguliert worden, welche die gesamte 
Arbeitskraft des Arbeitenden in Anspruch nehmen. Die Krankenversicherungsgesetze, die Unfall- 
versicherung, die Invalidenversicherung sind Lohnregulierungsgesetze. 
Für andere, gleichfalls unfreiwillige Unterbrechungen der Arbeit (z. B. infolge von 
mangelnder Arbeitsgelegenheit) und für viele gleichfalls wichtige Arbeitsverträge — insbesondere 
derjenigen Arbeiter, die mit vielen Auftraggebern gleichzeitig Verträge schließen (Handwerker, 
Arzte usw.) — hat eine solche Regulierung des Arbeitslohns noch (genauer: Erstreckung 
des Arbeitseinkommens auf Zeiträume, in denen nicht gearbeitet wird) nicht stattgefunden. 
Fast noch wichtiger ist freilich, daß der Arbeitsvertrag dem Arbeiter, der Familien- 
vorstand ist, nicht die Möglichkeit gibt, den hierdurch gesteigerten Bedürfnissen entsprechend, 
sich gesteigerte Mittel zu schaffen. In Ausnahmefällen wird der Arbeitgeber dies freiwillig 
beachten (gesteigerter Wohnungsgeldzuschuß der verheirateten Beamten, Wohlfahrtseinrich- 
tungen in manchen Fabriken). In der Regel aber — d. h. überall, wo solche besondere, den 
Verheirateten zugute kommenden Einrichtungen nicht bestehen —, wird das Familienleben 
und die Erziehung der künftigen Staatsbürger wesentlich erschwert sein, solange nicht ent- 
weder der Arbeitsvertrag als Mittel zum Unterhalt der Unvermögenden aufgegeben ist 
(Sozialismus) oder der Arbeitsvertrag korrigiert, d. h. durch öffentlichrechtliche Ein- 
richtungen ergänzt wird, die den Familienvorständen zugute kommen. Die Keime dieser Ein- 
richtungen (Unentgeltlichkeit des Schulunterrichts, der Lehrmittel, des Begräbnisses, Schul- 
frühstück, Mutterschaftsversicherung, Ferienkolonien usfw.) sind heute in der Armenpflege und 
in der wohltätigen und gemeinnützigen Tätigkeit vorhanden; ihre systematische Durchführung 
wird ihre prinzipielle Verschiedenheit von der Armenpflege, und ihre Zugehörigkeit zum 
Arbeitsrecht im weiteren Sinne erkennen lassen. 
4. Die Auflösung des Arbeitsvertrags kann die eingreifendsten Folgen für die Vertrag- 
schließenden, für Staat und Gesellschaft haben. Der Arbeiter, den ein Riesenbetrieb entläßt, 
oder dessen Arbeitgeber einem entsprechend starken Trust angehören, oder in einer entsprechend 
starken Organisation vereinigt sind, kann durch die Entlassung heimatlos, zur Auswanderung ge- 
zwungen werden. (So ein Arbeiter, der sich beim Bund der Metallindustriellen mißliebig macht; 
ein Wirt, den seine sozialdemokratische oder strengkatholische Arbeiterkundschaft verläßt.) Die 
Hausfrau, der die Dienstboten entlaufen, der Kranke, den der Arzt, der Wirt, den die Kellner 
plötzlich im Stich lassen, kann dadurch den schwersten Schaden erleiden. Jede dem Schutz der 
Arbeitswilligen gewidmete Maßregel muß die Leute, die auf diese Art oder infolge einer Aus- 
sperrung brotlos und existenzlos werden, ebenso berücksichtigen, wie die durch einen Streik am 
Arbeiten verhinderten „Arbeitswilligen“. Die bloße Drohung mit der gleichzeitigen Auflösung 
vieler Arbeitsverträge (durch Streiks oder Aussperrung) kann die persönliche Freiheit aller 
derer, die hierdurch betroffen werden, und die mit dem Arbeitsverhältnis an sich vielfach gar 
nichts zu tun haben, geradezu aufheben; die Durchführumg der Drohung kann die direkte Lebens- 
gefährdung vieler Tausende, den Ruin von Handel und Verkehr, die Schwächung des Staats 
bedeuten. 
Die Möglichkeit, eine solche Schädigung des Staats oder eine solche Gefährdung einer 
unbestimmten Anzahl an den betreffenden Arbeitsverhältnissen ganz unbeteiligter Personen 
herbeizuführen, wird häufig als „Streikrecht“ oder als das „Recht des Arbeitgebers, Herr im 
Hause zu bleiben“, bezeichnet. Arbeiter und Arbeitgeber sind sehr bereit, jede Beschränkung 
dieser Möglichkeit durch staatliche Maßnahmen (Schutz des Lebensmitteltransports beim Streik
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.