Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

32 G. Anschütz. 
wird aber von der französischen Verfassungsgeschichte in dem zu der deutschen Entwicklung 
entgegengesetzten Sinne entschieden. In Frankreich vermag es das Königtum, der mächtigen 
Vasallen Herr zu werden, sie als selbständige Gewalten auszurotten, noch ehe sie sich zu Trägern 
einer partikularen Staatsgewalt, zu Landesherren, entwickeln konnten. Anders in 
Deutschland, wie gezeigt. Und so geschah es, daß der allgemeine Staatsbildungsprozeß seit 
dem Mittelalter bei den Franzosen in zunehmendem Maße zentralistische, nationale, in Deutsch- 
land partikularistische, dynastisch-territoriale Bahnen einschlägt. Von der Zeit Richelieus und 
Ludwigs XIII. ab bietet Frankreich das Bild eines straff zentralisierten Einheitsstaates von 
imponierender Einheit und Macht, während gleichzeitig in Deutschland die partikularistische 
Zersplittenung der Staatsgewalt ihren Gipfelpunkt erreicht. Der Westfälische Friede erhebt 
die deutsche Landeshoheit, wenn auch nicht dem Worte, so doch der Sache nach zu einer sou- 
veränen Staatsgewalt, ihre Träger, die Fürsten, zu Souveränen mit dem Recht auf selbständige 
europäische Politik. Das alte Reich bestand zwar bis zu seinem Zusammenbruch im Jahre 1806 
noch fort, aber es führte nur ein Schein= und Schattendasein. Was in Deutschland an lebendigen 
politischen Kräften vorhanden war, das fand sich in den deutschen Fürstenhäusern und ihrem 
Familienbesitz, den Territorien, aus denen dann, als Überlebende einer strengen Auslese, welche 
mehr als neun Zehntel des alten Bestandes deutscher Landesherrschaften hat untergehen lassen, 
die heutigen 25 deutschen Einzelstaaten hervorgegangen sind. 
Der Anbruch der neueren Zeit sicyht also den Sieg des Partikularismus. Es ist ein 
Sieg auf der ganzen Linie. Die deutschen Landesherren waren zu alleinigen Trägern der 
hundertfältig zersplitterten Staatsgewalt geworden, ihnen war die weitere politische Entwicklung 
Deutschlands an Haupt und Gliedern in die Hand gegeben. Sollte die Erneuerung des Reiches, 
der Aufbau eines Staatswesens, welches nicht nur territorialen und dynastischen, sondern 
nationalen Interessen diente, je gelingen, so konnte dies Werk nur von den Territorialgewalten 
selbst ausgehen. Ihrem bündischen Zusammenwirken, der Uberwindung des Parti- 
kularismus durch den Föderalismus war die Zukunft Deutschlands anvertraut. 
Dabei mußte mit Notwendigkeit die Führung dem Stärksten zufallen, derjenigen Landesstaats- 
gewalt, welche zur Führerschaft den Beruf und die Kraft, Wollen und Können besaß. Da ist 
es denn wieder ein Verhängnis für die nationale Staatsentwicklung gewesen, daß seit den 
Tagen des Westfälischen Friedens unter den Gliedstaaten des alten Reichsverbandes nicht einer, 
sondermn zwei über das Normalmaß deutscher Landesherrschaften weit hinauswuchsen, so weit, 
daß jeder von ihnen nach dem extensiven und intensiven Umfang seiner Macht den Anspruch 
auf Vorherrschaft in Deutschland erheben durfte und erhob: Osterreich und Preußen, die Erb- 
lande des Hauses Habsburg und der Staat der Hohenzollern, die Schöpfung des Großen Kur- 
fürsten, Friedrich Wilhelms I., Friedrichs des Großen. Statt des Einen, was not tat, eines 
Kristallisationskernes, eines Attraktionszentrums für die nationale Umgestaltung, zwei solcher 
Kerne und Mittelpunkte, ein Zuviel, welches, wie die Erfahrungen von 1815 und von 1848 bis 
1866 zeigen sollten, die Aufgabe der deutschen Staatsbildung noch durch ein weiteres, dualistisches 
Moment erschwerte. Die europäische Ebenbürtigkeit des älteren und des jüngeren deutschen 
Großstaates hat die furchtbare Kraftprobe der drei schlesischen Kriege festgestellt: für Preußen 
zugleich eine Besiegelung seiner Großmachtstellung, nicht aber etwa den Gewinn eines die Macht 
des Hauses Habsburg überbietenden Einflusses in Deutschland. Die Frage der Hegemonie 
in der deutschen Staatenwelt war gestellt, aber nicht entschieden, auch in den Spätjahren 
Friedrichs des Großen hat die deutsche Politik Preußens sich kein höheres Ziel stecken können 
als dieses: unter Verzicht auf alle grundsätzlichen Umformungen dem traditionellen, durch die 
Kaiserwürde und durch eine starke mittel= und kleinstaatliche Klientel gesicherten Einfluß Oster- 
reichs auf die deutschen Dinge möglichst erfolgreich die Wage zu halten (Fürstenbund Friedrichs 
des Großen von 1785). 
Die ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bringen den Untergang des alten 
Reichs, Leid und Druck der Fremdherrschaft, den Befreiungskrieg. Die Fremdherrschaft: furcht- 
bare Lehrjahre nationalen Empfindens und Wollens, der Befreiungskrieg: eine erste Probe 
nationalen Könnens. Wer lernte, wer erprobt ward, war das deutsche Volk und der preußische 
Staat. Das Volk — erst nur die besten seiner Gebildeten, dann immer weitere Kreise — 
wird jetzt endlich zum politischen Nationalbewußtsein erzogen, damit tritt der Einheitsdrang
	        
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