Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

356 Flesch und Hiller. 
Eine weitgehende Förderung der Koalitionszwecke hat das Reichsvereinsgesetz vom 
19. April 1908 in öffentlichrechtlicher Hinsicht mit sich gebracht. Durch dieses ist das Vereins- 
und Versammlungswesen allgemein von Verboten und Strafbestimmungen befreit; im be- 
sonderen unterliegen nur öffentliche Versammlungen zur Erörterung politischer An- 
gelegenheiten der Anzeige- oder Bekanntmachungspflicht, während die in § 152 der GewO. 
zusammengefaßten Koalitionen hiervon befreit sind. 
Anders steht es auf privatrechtlichem Gebiete. Hier besteht noch der § 152 Abs. 2 der Gew O. zu 
Recht, welcher wie bemerkt, jedem Teilnehmer den Rücktritt von Koalitionen freistellt und aus 
ihnen weder Klage noch Einrede stattfinden läßt. Diese völlige Ungebundenheit der Einzelpersonen 
und die Rechtsschutzlosigkeit der andern Beteiligten entspricht nicht mehr den wirtschaftlichen Be- 
dürfnissen der Gegenwart, in welcher der Einzelarbeitsvertrag immer mehr durch den kollek- 
tiven Arbeitsvertrag ersetzt wird. Der Rücktritt einzelner, der oft nur in ungesunder Eigen- 
brödelei seine Ursache hat, erscheint jetzt weit öfter als früher als eine gegen das Anstandsgefühl 
gerecht Denkender verstoßende Handlungsweise. Aufgabe des künftigen Rechts wird es sein, 
durch Einschränkung solcher Rücktrittsrechte und Anerkennung der Rechtsfähigkeit der Berufs- 
vereine den Organisationsgedanken auf Arbeitgeber= wie -nehmerseite zu stärken. 
8) Die Gewerbegerichte. Einkigungsamt. 
8 28. Zur Durchführung der Ansprüche aus dem gewerblichen Arbeitsverhältnis sind 
in Deutschland die Gewerbegerichte geschaffen, deren historische Wurzel die in Frankreich schon 
seit Anfang des 19. Jahrhunderts eingerichteten Conseils de prud'hommes sind. Sie ermög- 
lichen die rasche, billige und sachkundige Prozeßführung über alle gewerblichen Streitigkeiten. 
In Deutschland ursprünglich nur im Bereich des französischen Rechts als Staats-, sonst nur 
vereinzelt als gemeindliche gewerbliche Schiedsgerichte geschaffen, wurden sie durch das Reichs- 
gesetz vom 6. Mai 1890 allgemein eingeführt und durch Gesetz vom 29. September 1901 für 
alle Gemeinden mit mehr als 20 000 Einwohnern obligatorisch gemacht. Ihre Organisarion 
beruht darauf, daß ein Gerichtsvorsitzender, der weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer sein 
darf, von der Gemeinde bestellt und ihm eine Anzahl von Beisitzern, aus allgemeinen Wahlen 
der Arbeitgeber und nehmer hervorgehend, beigesellt wird. Die Wahl ist unmittelbar und 
geheim, und kann nach den Grundsätzen der Proportionalwahl, d. h. so, daß unter 
den Parteien, welche die Gerichtseingesessenen bilden, die Beisitzerstellen nach Maßgabe der 
von jeder Partei aufgebrachten Stimmen verteilt werden, erfolgen. An der Entscheidung über 
die Streitigkeiten nehmen je nach den Bestimmungen des zu erlassenden Gemeindestatutes 
zwei oder vier Beisitzer teil, und zwar Arbeitgeber und Arbeitnehmer in gleicher Zahl. Die 
sachliche Zuständigkeit beschränkt sich auf gewerbliche Streitigkeiten zwischen gewerblichen 
Arbeitern und ihren Arbeitgebern, eingeschlossen sind die Betriebsbeamten mit einem Gehalt 
bis zu 2000 Mark, ausgeschlossen hingegen die Handlungsgehilfen und Lehrlinge, für welche 
das Kaufmannsgericht zuständig ist. Zu den Arbeitern gehören auch die Heimarbeiter und 
diejenigen Hausgewerbetreibenden, welche die Rohstoffe und Halbfabrikate vom Arbeitgeber 
geliefert erhalten, andere Hausgewerbetreibende, soweit das Statut es bestimmt. Auch erstreckt 
sich die Zuständigkeit des Gewerbegerichtes auf Klagen zwischen Arbeitern desselben Arbeit- 
gebers aus gemeinsam übernommener Arbeit. Die gewerblichen Streitigkeiten sind in § 4 des 
Gewerbegerichtsgesetzes aufgezählt; die Ansprüche aus Konkurrenzklauseln — das sind Verträge, 
welche den Arbeitnehmer für die Zeit nach Beendigung des Dienstverhältnisses zur Konkurrenz- 
enthaltung verpflichten, unterfallen den ordentlichen Gerichten. Ortlich zuständig ist das Ge- 
werbegericht, in dessen Bezirk die streitige Verpflichtung zu erfüllen ist oder der Arbeitgeber 
seine gewerbliche Niederlassung hat oder beide Parteien wohnen. Das Prozeßverfahren vor 
den Gewerbegerichten vollzieht sich unter Ausschluß der Rechtsanwälte in den einfachsten 
Formen. Alle Zustellungen und Ladungen besorgt das Gericht von Amts wegen. Die Ein- 
lassungs-- wie die Rechtsmittelfristen sind gegenüber den ordentlichen Verfahren wesentlich ab- 
gekürzt. Der Vorsitzende fördert den Rechtsgang, indem er die Parteien veranlaßt, alles 
Material vorzubringen, Beweismittel, besonders Zeugen möglichst gleich zu gestellen, und er 
hat das Recht, das persönliche Erscheinen der Parteien jederzeit zu erzwingen. Im ersten
	        
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