Abgabenrecht. 429
Und im Art. 70 a. a. O. in seiner bis zum Gesetz vom 14. Mai 1904 geltenden Fassung war
sogar durch die Worte „solange Reichssteuern nicht eingeführt sind“ die Erweiterung des Steuer-
systems des Reiches bereits in Aussicht gestellt, ohne daß es hierzu erschwerenderer Formen
als der der gewöhnlichen Reichsgesetzgebung bedurfte. Daran hat auch die Anderung des Art. 70
durch das Gesetz, betr. Anderungen im Finanzwesen des Reiches, nichts geändert; denn die
Streichung der erwähnten Worte beseitigt wohl die Kennzeichnung der Matrikularbeiträge als
einer einstweiligen Einrichtung, beschränkt das Reich aber nicht darin, nach seinem Ermessen
sich neue Steuerquellen zu erschließen, ohne seine Verfassung ändern zu müssen. Auch Art. 4
Ziff. 2 behält ganz allgemein „die für Zwecke des Reiches zu verwendenden Steuern“ der Be-
aussichtigung und Gesetzgebung des Reiches vor.
In der Tat hat das Reich im Laufe der Zeit unter dem Zwange der Ver-
hältnisse sein Steuersystem durch Hinzufügung immer neuer Glieder fortgesetzt er-
weitert und dadurch zum Teil die Einzelstaaten zur Ausscheidung der entsprechenden
Bestandteile der eigenen Steuersysteme genötigt. Schon bei seiner Gründung übernahm
es von dem Norddeutschen Bunde neben den Zöllen und den Verbrauchssteuern auf Salz,
Tabak, Branntwein, Bier und Zucker die Wechselstempelsteuer, und es sind dann nach und nach
in folgender Reihenfolge hinzugekommen der Spielkartenstempel, die Reichsstempelabgaben,
die Schaumweinsteuer, durch die Finanzreform von 1906 neben den in die Reichsstempelabgaben
eingearbeiteten Steuern auf Eisenbahnfrachturkunden, Personenfahrkarten, Erlaubniskarten
für Kraftfahrzeuge und Vergütungen an Aufsichtsräte, die Zigaretten= und die Reichserbschafts-
steuer, durch die Finanzreform von 1909 die Leuchtmittelsteuer, die Zündwarensteuer, die, Be-
standteile der Reichsstempelabgaben bildenden, Steuern auf Gewinnanteil- und Zinsbogen,
Schecks, Quittungen über Auszahlungen aus Bankguthaben und auf Grundstücksübertragungen,
endlich im Jahre 1911 die Zuwachssteuer.
Ein einheitliches Prinzip, sei es das der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit (sog. „Opfer-
theorie“ in dem hiermit gleichbedeutenden Sinn), sei es das derjenigen nach Leistung und Gegen-
leistung (sog. „Aquivalenz“= oder „Interessetheorie"), sei es eine planmäßige Verbindung beider
Theorien, ist in der Zusammensetzung des Reichssteuersystems nicht zu erkennen. Die Zölle beruhen
vorzugsweise auf wirtschaftspolitischen Erwägungen, auf dem Schutzbedürfnis einheimischer Produk-
tionszweige gegenüber der ausländischen Konkurrenz und führen infolgedessen zu einer starken Be-
lastung gerade der notwendigsten Lebensbedürfnisse. Auch die Salz-und die Zündwarensteuer treffen
Gegenstände, deren Verbrauch im Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der verbrauchenden Einzel-
wirtschaften in Wirtschaften geringerer Leistungsfähigkeit eine größere Rolle spielt wie in leistungs-
fähigeren. Die Steuern auf Bier und Branntwein belasten zwar nicht den Verbrauch unbedingt
notwendiger Lebensbedürfnisse, aber doch die Genußmittel der breitesten Schichten, während
das Getränk der wohlhabenderen, der Wein, nur, soweit es sich um Schaum= oder ausländische
ruhige Weine handelt, einer Reichssteuer, der Schaumweinsteuer oder dem Einfuhrzoll, unter-
liegt. Auch der Tabakverbrauch ist ein solcher aller Bevölkerungskreise, und der Zucker gehört
heutzutage bis zu einem gewissen Grade zu den notwendigen Lebensbedürfnissen. Die vom
Norddeutschen Bunde überkommenen Verbrauchssteuern sind somit allesamt solche auf den Massen-
konsum, auf die jedoch ein Gemeinwesen wie das Reich, dem die direkten Steuern durch deren
Inanspruchnahme seitens anderer, älterer Gemeinwesen mehr oder minder verschlossen sind,
um ihrer eben durch den Massenkonsum bedingten Ergiebigkeit willen nicht verzichten kann. Da-
gegen sind die Schaumweinsteuer und der Spielkartenstempel — denn auch er ist seinem Wesen
nach eine, wenn auch in Stempelform gekleidete, Verbrauchssteuer — zweifellos Steuern auf
einen Luxuskonsum, und auch von der Leuchtmittelsteuer wird man sagen können, daß sie die
besser situierten Klassen stärker trifft; freilich wird diese ihre Wirkung aufgewogen durch den
Petroleumzoll. Die in dem Reichsstempelgesetz zusammengefaßten, ihrem Wesen nach sehr
verschiedenartigen Steuern und die Wechselstempelsteuer beabsichtigen, indem sie an einzelne
wirtschaftliche Vorgänge anknüpfen, aus denen man auf eine gewisse Steuerkraft derjenigen,
die man mit der Steuer treffen will, glaubt schließen zu können, eine Besteuerung der relativ
steuerfähigeren Klassen. Inwieweit ihnen dies gelingt, ist eine andere, hier nicht zu unter-
suchende Frage. Auf einem direkteren, wenn auch nicht auf so direktem Wege wie die Ein-
kommen= und die Vermögenssteuer — sie verhält sich in dieser Beziehung zu letzterer ähnlich wie