Einleitung.
Kaum war ein Jahrzehnt seit der Wiederaufrichtung des Deutschen Reichs verflossen,
als Deutschland begann, sich einer nicht minder gewaltigen Aufgabe zu unterziehen: der Für—
sorge für die gesamte deutsche Arbeiterbevölkerung durch den allmählichen Ausbau der sozialen
Gesetzgebung. Es war dies eine große sozialpolitische Tat, da es an jedem Vorbilde sowohl im
Inland als auch im Ausland fehlte. Das Eingreifen der Gesetzgebung war dringend notwendig
geworden, denn es hatte sich in den meisten zivilisierten Staaten auf wirtschaftlichem und
sozialem Gebiete eine mächtige Umwälzung vollzogen. Dieser Umschwung war eingetreten
infolge des Übergangs vom Klein- zum Großbetrieb, der gesteigerten Verwendung von Maschinen
und gefährlichen Stoffen und der dadurch hervorgerufenen Erhöhung der Gefahr für Leib und
Leben, der Bildung eines politisch freien, wirtschaftlich abhängigen, besitzlosen, allein auf den
Ertrag seiner Arbeitskraft angewiesenen Arbeiterstandes und der damit verknüpften dauernden
und tief empfundenen Gegensätze zwischen Arbeiterschaft und Unternehmertum. Der bestehende
Rechtszustand vermochte diesen veränderten Verhältnissen nicht zu genügen. Die Unzulänglich-
keit der bestehenden Gesetze machte sich besonders fühlbar in den Fällen der Not: bei Krankheit,
Unfällen, Invalidität und der mit der Erreichung eines hohen Alters vielfach verbundenen teil-
weisen Erwerbsunfähigkeit. Hier setzt die Versicherungsgesetzgebung ein, die das
Ziel verfolgt, den berechtigten Ansprüchen der arbeitenden Bevölkerung gerecht zu werden und
zur Milderung der sozialen Gegensätze beizutragen. In der sozialen Versicherung gelangt das
an altüberlieferte deutschrechtliche Anschauungen sich anlehnende Prinzip zum Ausdruck, daß
das Arbeitsverhältnis nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein soziales ist, d. h. daß
der Arbeitgeber, der die Arbeitskraft des Arbeitnehmers für seine Zwecke ausnutzt, nicht nur
zur Zahlung des Lohnes, sondern darüber hinaus auch zu einer gewissen Fürsorge für den
Arbeitnehmer verpflichtet ist. „Der soziale Gedanke ist.“ wie W. Kahls zutreffend sagt, „in
die Staatszwecke eingetreten.“ „Die Rückwirkung dieser erweiterten Staatsauffassung auf das
Verwaltungsrecht ist darin gelegen, daß neue und große Gebiete der Verwaltungsgesetzgebung
erschlossen worden sind. Unter dem starken Schutze des deutschen Kaisertums hat diese Gesetz-
gebung ihren verheißungsvollen Lauf begonnen und eine neue Ara deutscher Einheit im Ge-
biete des Verwaltungsrechts herbeigeführt.“ Das Riesenwerk gelang ungeahnt schnell; in
rascher Folge schloß sich ein Stein an den anderen des großen Gebäudes. Der Weitsicht und
Tatkraft des Reichskanzlers Fürsten von Bismarck, der mit aller Kraft die Durch-
führung der Sozialreform betrieb, ist es vornehmlich zu verdanken, daß die schwierige Aufgabe
in so erstaunlich schneller Zeit gelöst wurde. An dem Ausbau und Umbau der sozialen Ver-
sicherung wird ständig weitergearbeitet.
Das Vorgehen des Deutschen Reiches auf dem Gebiete der sozialen Versicherung war
bahnbrechend für alle übrigen zivilisierten Staaten. Die lebhaften Zweifel an der Gangbarkeit
des vom Deutschen Reiche eingeschlagenen Weges sind angesichts der Erfolge 3 der deutschen
1 ## erinnern ist an das Knappschaftswesen, die Reederhaftung, die Haftung der Herrschaft
nach Gesinderecht.
„ Über Einheit im Gebiete des deutschen Verwaltungsrechts: Schmollers Jahrbücher
27. Jahrg. S. 15 ff.
* Über die Wirkungen der deutschen Arbeiterversicherung zu vgl. Laß und Zahn,,
Einrichtung und Wirkung der deutschen Arbeiterversicherung. 3. Ausg. Berlin 1904, S. 128 ff.;
ferner Dr. Kaufmann, Fünfundzwanzig Jahre Unfall- und Invalidenversicherung. Rede
bei der Jubelfeier der Unfall- und Invalidenversicherung am 1. Oktober 1910. Berlin 1910;
derselbe, Licht und Schatten der deutschen Arbeiterversicherung. Berlin 1912; Zahn,