Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

462 Ludwig Laß. 
sozialen Versicherung allmählich geschwunden. Die meisten Staaten Europas sind damit be- 
schäftigt, ähnliche Einrichtungen für ihre Länder zu treffen. 
Eingeleitet wurde die soziale Gesetzgebung durch die unvergeßliche, von dem ersten Reichs- 
kanzler eigenhändig niedergeschriebene Botschaft Kaiser Wilhelms lI. vom 
17. November 1881, die in großen Zügen Plan und Ziel der sozialen Versicherungs- 
gesetzgebung vorzeichnete. Hier heißt es: „Wir halten es für Unsere Kaiserliche Pflicht, dem 
Reichstag die Förderung des Wohles der Arbeiter von neuem ans Herz zu legen, und würden 
Wir mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung 
sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, 
dem Vaterlande neue und dauemde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hilfs- 
bedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, 
zu hinterlassen. In Unseren darauf gerichteten Bestrebungen sind wir der Zustimmung aller 
verbündeten Regierungen gewiß und vertrauen auf die Unterstützung des Reichstags ohne 
Unterschied der Parteistellungen. In diesem Sinne wird zunächst der Entwurf eines Gesetzes 
über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsun fälle vorbereitet. Ergänzend wird 
ihm eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen 
Krankenkassen wesens zur Auf#gabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch Alter 
oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesamtheit gegenüber einen be- 
gründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat 
zuteil werden können. Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, 
aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten 
des christlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß an die realen Kräfte dieses Volkslebens 
und das Zusammenfassen der letzteren in der Formkorporativer Genossenschaften 
unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch 
von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange nicht ge- 
wachsen sein würde.“ · 
Aus diesem denkwürdigen Schriftstück sind die Grundsteine der jetzt bestehenden sozialen 
Versicherung klar zu ersehen. Das Wohl der Arbeiter soll gefördert werden durch eine Ver- 
sicherung gegen Krankheit, Unfall und Invalidität, die Versicherung soll 
durchgeführt werden durch korporative Genossenschaften, und den Versicherten 
sollen feste Rechtsansprüche gewährleistet werden. Dieses Programm hat die neueste 
Zeit durch die Witwen= und Waisenversicherung der Arbeiter und die Ver- 
sicherung der Angestellten weiter ausgebaut. 
Wie die soziale Versichenung im Laufe der Zeit sich entwickelt hat, wird im folgenden er- 
örtert werden. 
Erstes Kapitel. 
Grundlehren. 
8 1. Begriff und Arten der sozialen Versicherung. 
1. Die soziale Versicherung umfaßt diejenigen durch die sozialen Versicherungsgesetze 
des Deutschen Reichs geschaffenen Einrichtungen, durch welche die in die Versicherung ein- 
bezogenen Bevölkerungsschichten gegen die ihrer Arbeitskraft drohenden Gefahren (Krankheit, 
Unfall, Invalidität, hohes Alter, Tod) materiell sichergestellt werden. Diese Sicherstellung er- 
streckt sich in erheblichem Umfang auch auf die Familienangehörigen und die Hinterbliebenen 
der Versicherten. 
Die Arbeiterversicherung in Deutschland, ihre sozialhygienische und sozialpolitische Bedeutung, 
Sonderdruck aus der Münchener medizinischen Wochenschrift Nr. 48, 1912; derselbe, Be- 
lastung durch die deutsche Arbeiterversicherung, in der Zeitschrift für die gesamte Versicherungs- 
wissenschaft 1912; derselbe, Arbeiterversicherung und Armenpflege im Archiv für Sozial- 
wissenschaft und Sozialpolitik 1912; F. Hitze, Zur Würdigung der Deutschen Arbeiter-Sozial- 
politik. M.-Gladbach 1913. 
  
  
  
 
	        
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