Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

466 Ludwig Laß. 
10. Eine besondere Versicherung der Angestellten wurde seit 1901 angestrebt. Im 
Jahre 1903 wurden Ermittelungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse der Privatangestellten 
veranstaltet, deren Ergebnisse das Kaiserliche Statistische Amt ausarbeitete. Die erste Denk- 
schrift über Plan und Kosten einer Angestelltenversicherung wurde 1907 dem Reichstage vor- 
gelegt. Danach wurde ein Betrag von etwa 19 vom Hundert des Jahresverdienstes für nötig 
erachtet, um Ruhegeld und Hinterbliebenenfürsorge in einer Höhe gewähren zu können, wie 
sie Reichs-- oder Staatsbeamte beziehen. Die hohen Kosten schreckten von einem Ausbau der 
Angestelltenversicherung auf einer solchen Grundlage zurück. Eine zweite Denkschrift vom Jahre 
1908 beschränkte sich auf wesentlich geringere Leistungen, wogegen in Aussicht genommen wurde, 
Beiträge nur in Höhe von etwa 8 vom Hundert des Jahresverdienstes zu erheben. Auf dieser 
Grundlage beruht das Versicherungsgesetz für Angestellte vom 20. Dezember 
1911 (Rl. S. 989 ff.). Die Vorschläge, die für die Einrichtung der Angestelltenversicherung 
gemacht worden sind, bewegten sich nach drei Richtungen hin. Man dachte an einen Ausbau 
der Invaliden= und Hinterbliebenenversicherung durch Anfügung neuer Lohnklassen, ferner an 
die Befreiung der Angestellten von der allgemeinen Invaliden= und Hinterbliebenenversicherung 
und Versicherung bei einer besonderen Anstalt für Angestellte, und endlich an eine besondere 
zusätzliche Versicherung der Angestellten in einer besonderen Reichsanstalt neben der allgemeinen 
Invaliden= und Hinterbliebenenversicherung, so daß die geringer besoldeten Angestellten (mit 
einem Jahresarbeitsverdienst bis zu 2000 Mk.) sowohl in der allgemeinen Invaliden- und 
Hinterbliebenenversicherung als auch in der besonderen Angestelltenversicherung versichert sind. 
Das Gesetz hat den dritten Weg als den gangbarsten gewählt. Gegen eine Angliederung der 
Angestelltenversicherung an die allgemeine Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung sprach 
der Umstand, daß die Wünsche der Angestellten durch eine einfache Angliederung an die allgemeine 
Invaliden= und Hinterbliebenenversicherung nicht hätten erfüllt werden können. Das Ruhegeld 
soll nicht erst bei Eintritt der Invalidität im Sinne der Reichsversicherungsordnung gewährt 
werden, sondern schon bei Berufsunfähigkeit. Ferner soll Altersrente schon mit Vollendung 
des 65. Lebensjahres und nicht erst mit Vollendung des 70. Lebensjahres gewährt werden. 
Man wünschte eine Versorgung sämtlicher Witwen der Angestellten ohne Unterschied, nicht nur 
der invaliden Witwen, worauf sich die Reichsversicherungsordnung beschränkt. Die Waisen sollten 
bis zum vollendeten 18. — nicht nur bis zum 15. — Lebensjahre versorgt werden, das Heil- 
verfahren sollte anders geregelt werden, ein Reichszuschuß sollte für die neue Art der Ver- 
sichenung nicht gewährt werden, usw. Für die Doppelversicherung der gering besoldeten An- 
gestellten sprach die Erwägung, daß man diesen Angestellten die Wohltat, die der Reichszuschuß 
zu der allgemeinen Invaliden= und Hinterbliebenenversicherung bietet, nicht entziehen wollte. 
§ 3. Die rechtliche Natur der sozialen Versicherung. 
Die Frage nach der rechtlichen Natur der sozialen Versicherung ist eine der bestrittensten 1. 
Die einen weisen sie dem Privatrecht zu, andere dem öffentlichen Recht, und wieder andere 
nehmen unter verschiedener Begründung eine gemischte Natur — d. i. eine Mischung von 
öffentlichrechtlichen und privatrechtlichen Elementen — an. Das Richtige ist meines Erachtens, 
Zu vgl. das Nähere bei Rosin, Die Rechtsnatur der Arbeiterversicherung, Tübingen 
1908 (Staatsrechtliche Abhandlungen, Festgabe für Laband zum 60. Jahrestage der Doktor- 
promotion, 2. Bd.), woselbst die Streitfrage eingehend erörtert wird; ferner Piloty, UV. 1 
163, II 409; Menzel, Die Arbeiterversicherung nach österreichischem Recht, Leipzig 1893, 
S. 185 ff.; Köhne, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht XXXVII 76 ff.; Bornhak, 
ebenda XXXIX 233 ff.; G. Meyer, Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 1 § 184; Tezner in Grün- 
huts Zeitschrift, XXI 199; Pfälzer in der Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht, XLIV 388 
und XLV 1 ff.; Proebst in Hirths Annalen, 1888, S. 319 ff.; Lewis, Versicherungsrecht, 
S. 346; Rehm i. Arch. f. öff. Recht V529; Weyl, Lehrb. d. Reichsversicherungsrechts S. 877 ff. 
und Baumgartners Zeitschr. f. Versicherungs-Recht und -Wissenschaft, Bd. I1 (Privatversicherung 
und Arbeiterversicherung); Jellinek, System der subjekt. öff. Rechte, 2. Aufl., S. 268; 
Seydel, Bayer. Staatsr. III 143; Laband, Staatsrecht, 4. Aufl., III 165 ff., 313 ff.; der- 
selbe, Deutsches Reichsstaatsrecht in „Das öffentliche Recht der Gegenwart“, 1907, S. 279, 296; 
Frank, Der Rechtscharakter der durch die deutsche Sozialgesetzgebung geschaffenen Unterstützungs- 
ansprüche, Halberstadt 1891; Peters, Die rechtl. Natur der Unfallentschädigungsansprüche,
	        
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