Soziales Versicherungsrecht. 469
Zeiten usw. — trotz aller staatlichen Bemühungen nur in ganz unzureichender Weise Gebrauch
gemacht wurde. Zwangsweise hat das Gesetz auch nur das Notwendige geregelt;
daran schließt sich die freeiwillige Tätigkeid der Beteiligten, die nach den verschiedensten
Richtungen hin wirksam wird (z. B. auf dem Gebiete der KV. die Familienversicherung, auf
dem Gebiete der UV. die Mehrleistungen der Versicherungsträger, auf den Gebieten der J. u.
HV. und der Angestelltenversicherung das Heilverfahren, der Kampf gegen die Volkskrank-
heiten usw.). ·
Verschieden von dem deutschen System ist dasjenige System, nach welchem ein Ver-
sicherungszwang in der Weise besteht, daß die Beteiligten gezwungen sind, ihre Arbeiter
oder sich selbst zu versichern, ihnen aber die Wahl gelassen wird, in welcher Weise sie ihre Ver-
pflichtung erfüllen wollen (durch Versicherung bei privaten Versicherungsgesellschaften, durch
Versicherung auf Gegenseitigkeit usw.). Dieses System, welchem vielfach mit Unrecht der Vorzug
vor dem deutschen System gegeben wird, ist in verschiedenen außerdeutschen Staaten (z. B.
Italien) eingeführt. "
Die deutschen Einrichtungen, soweit sie auf dem Zwange beruhen, werden häufig ohne
Grund angefeindet und bekämpft, namentlich im Auslande, wo man die deutschen Einrichtungen
in ihrer praktischen Wirksamkeit nicht genügend kennt 1. Zutreffend führte Präsident T. Boe-
diker auf dem 6. Internationalen Arbeitewersicherungskongreß in Düsseldorf (17.—24. Juni
1902) aus: „Was haben die Bekämpfer des Zwanges ihrerseits bisher ohne Zwang für die
Arbeiter geleistet? Wo sind ihre Millionen, von Milliarden gar nicht zu reden? Heilen ihre
Lobpreisungen der individuellen Freiheit einen Kranken, können Unfallwitwen oder Invalide
von Theorien leben?“ 2 Eigentliche Gegner des Zwanges sind in Deutschland kaum mehr vor-
handen. Vielfach wird sogar aus solchen Kreisen, welche gegenwärtig auf die Selbsthilfe an-
gewiesen sind, der Wunsch geäußert, daß der Versicherungszwang auf sie ausgedehnt werden
möge. Daß das Zwangsprinzip sich praktisch bewährt hat und auch nicht als drückende Bevor-
mundung empfunden wird, geht gerade aus dem Umstand hewor, daß es bei dem deutschen
Volke, welches sonst jedem Zwang abhold ist, Wurzel geschlagen hat und als berechtigt anerkannt
wird. Dazu kommt noch ein Umstand, dessen Bedeutung erst in neuerer Zeit gebührend gewürdigt
wird, daß der Zwang die Erreichung anderweitiger wichtiger Kulturaufgaben möglich gemacht
hat. Durch die Ansammlung großer Kapitalien seitens der Versicherungsträger werden die ver-
schiedensten Zweige der Volkswirtschaft mittelbar ungemein gefördert (z. B. durch Anlage von
Krankenhäusern, Arbeiterwohnungen, Begünstigung gemeinnütziger Unternehmungen u. dgl.).
II. Während auf der einen Seite der Zwang nicht zu entbehren ist, herrscht auf der
anderen Seite im weitesten Umfange Freiheit in der Durchführung der sozialen Versicherung.
Die soziale Versicherung wird in Deutschland durch sozialpolitische Körperschaften und Ver-
bände durchgeführt, die mit weitgehenden Rechten der Selbstverwaltung ausgestattet
sind. Die Beteiligten genießen infolgedessen ein höheres Maß von Freiheit als in denjenigen
Ländern, welche der Zwangsversicherung abgeneigt sind und bei dem System der freiwilligen
Versicherung (régime de la liberté) verharren. Das deutsche System begnügt sich damit, gleich
im Anfang grundlegende Normen festzusetzen und einen einmaligen energischen Zwang aus-
zuüben, in der Folgezeit aber alles Weitere der freien Selbstverwaltung der Beteiligten zu
überlassen, während das andere System, um die erforderliche Sicherheit für die Beteiligten zu
schaffen, die Durchführung der Versicherung auf Schritt und Tritt zu überwachen und zu kon-
trollieren hat. Die Folge ist, daß bei dem freiheitlichen System in Wirklichkeit eine größere
Einengung der Bewegungsfreiheit durch Bureaukratie und Staatsaufsicht herbeigeführt wird,
als dies bei dem System der Zwangsversicherung der Fall ist.
Die Selbstverwaltungsrechte äußern sich namentlich darin, daß die zur Durch-
führung der sozialen Versicherung berufenen Körperschaften und Verbände ihre Angelegen-
heiten — unter Staatsaufsicht — selbst durch eigene Organe (zum Teil unter Mitwirkung öffent-
licher Beamten)? auf Grund selbstgegebener (von der Aufsichtsbehörde genehmigter) autonomer
1 Zu vgl. die Widerlegung der Einwürfe im einzelnen bei Laß-Zahn a. a. O. S. 58 ff.
*„ Bödiker, Die wirtschaftliche und politische Bedeutung der deutschen Arbeiterversicherung.
* Eine größere Beteiligung des Berufsbeamtentums findet sich namentlich bei den Vor-
ständen der Versicherungsanstalten und bei dem Direktorium der Reichsversicherungsanstalt.