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wärts erhielt. Verschiedenc mittel- und nordwestdeutsche Staaten nahmen in dieser Zeit, bald
nach 1830, die konstitutionelle Verfassungsform an, so vor allem das Königreich Sachsen
(Verfassung vom 4. September 1831, vereinbart mit den noch bestehenden Landständen älterer
Ordnung), Kurhessen (Verfassung vom 5. Januar 1831), Braunschweig (Neue Landschafts-
ordnung vom 12. Oktober 1832), Hannover (Staatsgrundgesetz vom 26. September 1833).
Auch diese Gruppe deutscher Verfassungen zeigt, wie die voraufgehende süddeutsche Gruppe,
das monarchisch-konstitutionelle Prinzip in scharfer Ausprägung; von irgendwelchen Konzessionen
an den Gedanken der Volkssouveränetät ist überall nicht die Rede. Die sächsische und die braun-
schweigische Verfassung von 1831 bzw. 1832 gelten, soweit sie nicht in Einzelheiten durch spätere
Novellen abgeändert sind, noch heute als Staatsgrundgesetze ihrer Länder — ebenso übrigens
die oben erörterten süddeutschen Verfassungsurkunden der Jahre 1818—1820. Die Emanation
der letzteren bildet die erste, die der mittel- und nordwestdeutschen Staatsgrundgesetze die zweite
Etappe der konstitutionellen Entwicklung in Deutschland. Die dritte Etappe fällt in die Jahre
1848—1850; ihr Eintritt wird, wie der der zweiten, veranlaßt durch einen Anstoß von jenseits
des Rheins. Und dieser Anstoß, die Pariser Februar-Revolution von 1848, hat auf die deutschen
politischen Verhältnisse ungleich mächtiger gewirkt als 1830 die Juli-Revolution. Das Jahr
1848 rüttelte das deutsche Volk zu einer fieberhaften Freiheits- und Einheitsbewegung auf, die
freilich alsbald wieder schwächlich im Sande verlief — es hätte den Deutschen Bund beinahe
um sein jämmerliches Leben gebracht. Es hat endlich — dies ein Ergebnis von Dauer — den
größten deutschen Staat aus dem Absolutismus zur konstitutionellen Verfassungsform hinüber-
geführt.
III. Die Verfassungsentwicklung in Preußen 1. — Die Beantwortung der Frage, wo
in der inneren Geschichte der preußischen Monarchie die allerersten Spuren konstitutioneller
Gedanken auftauchen, hängt von der Vorentscheidung ab, welches Prinzip man für das dem
Konstitutionalismus wesentlichste Merkmal erachten will: die in irgendeiner Art bewirkte Ge-
waltenteilung oder die Beteiligung des Volkes bei der Bildung des
Staatswillens. Wer diese Vorfrage im Sinne der ersten Alternative beantwortet, darf
die Uranfänge konstitutioneller Entwicklung schon im friderizianischen Zeitalter suchen, denn
unzweifelhaft war die Verselbständigung und organische Differenzierung der richterlichen
Gewalt, die Unabhängigkeit der Justiz, mithin insoweit die Teilung der Gewalten, Zweck
und Ziel der Justizreform des großen Königs. Wer aber, richtiger, das wesentliche Moment
des konstitutionellen Systems in der Beteiligung des Volkes bei der Bildung des Staatswillens
erblickt, der muß die Vorgeschichte des preußischen Konstitutionalismus später beginnen lassen,
denn das ancien régime Preußens zeigt von irgendwelcher Zulassung nichtbeamteter, gewählter,
populärer Faktoren zu der Erledigung der Staatsgeschäfte keine leiseste Spur: das den auf-
geklärten Absolutismus so gut kennzeichnende Wort „Alles für das Volk, nichts durch das Volk“
ist kaum irgend und je so konsequent, so restlos in die Praxis umgesetzt worden als durch das
Regierungssystem der preußischen Könige des 18. Jahrhunderts. Erst die Stein-Harden-
bergsche Reform — welche im übrigen durch Modernisierung des Gesellschaftsaufbaus und
der Wirtschaftsordnung die sozialen Voraussetzungen für die kommende konstitutionelle Ent-
wicklung schuf (vgl. oben S. 39) — hat den Plan gefaßt, mit dieser Entwicklung auch selbst schon
den Anfang zu machen, Einrichtungen zu begründen, welche eine Anteilnahme des Staats-
bürgertums an der Bildung des Staatswillens vermitteln sollten. Es war der große organi-
satorische Gedanke des Freiherrn vom Stein, den Neuaufbau des Staatswesens von
unten auf zu beginnen, mit der Verwaltungsvreform den Anfang zu machen, dann erst
die Verfassungsreform in Angriff zu nehmen. Gewählte Vertreter der Beherrschten,
unbeamtete Volksgenossen sollten zunächst in weitem Umfange zu den Verwaltungzgeschäften
in Staat und Gemeinde hinzugezogen werden („Selbstverwaltung“: Städteordnung
von 1808, Versuch einer Zuziehung sog. ständischer Repräsentanten zu den Geschäften der Ver-
waltungsbehörden, vgl. E. v. Meier, Reform der Verwaltungsorganisation S. 240 ff.).
Aber auch der im eigentlichsten Sinne „konstitutionelle“ Gedanke, die Einführung einer Ver-
tretung des Volkes in die obersten Verfassungseinrichtungen des Staates, beginnt sich zu regen;
1 Vgl. Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat Bd. 1 (1912) S. 1—60.