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Vorbild. Hier gilt das Losungswort: „Internationale Einheit des Zieles und nationale An-
passung der Mittel“ 1.
Der Rechtszustand, wie er gegenwärtig in den außerdeutschen Staaten Europas besteht,
wird in den nachfolgenden Paragraphen kurz erörtert.
§ 34. Krankenversicherung.
In den europäischen Staaten finden wir, was die Krankenversicherung anlangt, teils
freiwillige Versicherung, teils Zwangsversicherung und teils freiwillige
Versicherung für bestimmte Gruppen der Bevölkerung, teils Zwangsversicherung für andere
Bevolkerungsgruppen (gemischtes System).
Ausschließlich freiwillige Versicherung besteht in solchen Staaten,
welche streng an der Anschauung festhalten, daß die möglichste Freiheit des Einzelnen den Ur-
quell der menschlichen Fortschritte bedeute. Dies gilt von Belgien (Ges. v. 3. April 1851,
23. Juni 1894, 19. März 1898), Schweden (Ges. v. 4. Juli 1910), Dänemark (Ges. v.
12. April 1892), Spanien (Ges. v. 30. Juni 1887), den Niederlanden (in freien
Krankenkassen) und Finland (Ges. v. 2. September 1897).
Ausschließlich Zwangsversicherung besteht in Rußland (Ges. v. 23. Juni
1912, Russ. Gesetzsammlung Teil I Nr. 2141), Luxemburg (Ges. v. 31. Juli 1901 und 21. April
1908), und Rumänien (Ges. v. 25. Januar 1912/7. Februar 1912).
Bei dem gemischten System lassen sich wieder unterscheiden solche Länder, welche
den Schwerpunkt auf die freiwillige Versicherunglegen und die Zwangsversicherung
nur für Ausnahmefälle eingeführt haben, und solche Länder, bei welchen — wie im Deutschen
Reiche — die Zwangsversicherung die Regel bildet. Zu den Ländem der ersteren Art
zählen Fran kreich, wo die Zwangsversicherung sich nur auf die Bergleute erstreckt (Ges.
v. 15. Juli 1850, 1. April 1898, 29. Juni 1894), Jtalien, wo die Zwangsversicherung nur für
Arbeiterinnen im Alter von 15 bis 50 Jahren gilt (Ges. vom 15. April 1886, 17. Juli 1910) und
die Schweiz, wo Zwangsversicherung für Kantone und Gemeinden ermöglicht ist (Ges. v.
13. Juni 1911). In den übrigen Staaten ist die Zwangsversicherung vorherrschend,
so in Osterreich (Ges. v. 30. März 1888, 4. April 1889, 11. Februar 1913), Ungarn
(Ges. A. XIX 1907), Großbritannien (Ges. v. 16. Dezember 1911), Norwegen
(Ges. v. 18. September 1909, 1. April 1911), Serbien (Ges. v. 29. Juni und 12. Juli 1910).
Einer Versicherung gegen Krankheit entbehrt noch Griechenland, das nur eine
Krankenfürsorge für Seeleute (nach dem Handelsgesetzbuch) und für in Berg= und Hüttenwerken
beschäftigte, durch Bruderladen gesicherte Arbeiter kennt.
§ 35. Unfallversicherung.
Auf dem Gebiete der Unfallfürsorge stehen sich in den europäischen Ländern zwei
Systeme gegenüber. Das System der privatrechtlichen Entschädigungs-
pflicht (Haftpflicht) und das System der Versicherung. Mehrfach sind auch beide
Systeme miteinander verschmolzen. Die privatrechtliche Entschädigungspflicht ist nicht nur auf
die Fälle eines Verschuldens der in Anspruch Genommenenen beschränkt, sonderm meist auch
dahin erweitert worden, daß man die Haftung des Unternehmers für seine Leute festsetzte.
Häufig ist auch der Grundsatz durchgeführt, daß die moderne Industrie, welche Gefahren schafft,
von Rechts wegen zur Entschädigung der durch diese Gefahren entstandenen Unfälle verpflichtet
sei (Theorie des risque professionel).
Das Versicherungssystem ist wiederum ein zweifaches. Entweder besteht
Zwangsversicherung in Zwangsorganisationen (wie im Deutschen Reich, Osterreich, Ungarn
Rußland, Norwegen, den Niederlanden, Luxemburg, Rumänien, Serbien), oder es besteht ein
Versicherungszwang in der Art, daß die Unternehmer zwar gezwungen sind, ihre Arbeiter zu
1 Zu vgl. Verhandlungen des 6. Internationalen Arbeiterversicherungskongresses in Düssel-
dorf (17.—24. Juni 1902).