Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

52 G. Anschütz. 
Wilhelm von Preußen erschien auf dem zu diesem Zwecke von dem Kaiser von Osterreich zu- 
sammenberufenen Fürstentage zu Frankfurt a. M. (August 1862; v. Sybel, 
520 ff.) nicht. Die Rechtfertigung dieser ablehnenden Haltung lag darin, daß Preußen in dieser 
Zeit — seit Eintritt des Ministeriums Bismarck, 24. September 1862 — schon entschlossen war, 
in der deutschen Frage seinen eigenen Weg zu gehen: das Ziel dieses Weges hieß jetzt nicht mehr 
Bundesreform, sondern volle Neugestaltung Deutschlands auf kleindeutscher und bundesstaat- 
licher Grundlage unter preußischer Führung. Den Krieg mit Osterreich und den Mittelstaaten, 
der menschlichem Ermessen nach auf diesem Wege liegen mußte und dann auch nicht ausgeblieben 
ist, gedachte man nun nicht mehr zu scheuen. 
Die allerletzten Bundesreformversuche — April bis Mai 1866 — gehören im Lichte einer 
tieferblickenden geschichtlichen Betrachtungsweise nicht mehr in die Ara des alten Deutschen 
Bundes, sondern bereits in die folgende Epoche, die Vorgeschichte und Entstehungsgeschichte 
des Norddeutschen Bundes und damit des heutigen Reiches. 
8 9. Der Norddeutsche Bund. Die Gründung des Deutschen Reiches. 
I. Die letzten Jahre des Deutschen Bundes. — Nicht lange nach dem Scheitem der auf 
dem Frankfurter Fürstentage beratenen österreichischen Reformakte, im Herbst 1863, trat die 
schleswig-holsteinische Frage auf, welche für die deutsche Geschichte der nächsten 
Jahre zur Schicksalsfrage wurde. Sie hat zunächst, in Gestalt der Befreiung Schleswig-Holsteins 
von der rechtlos gewordenen, gewalttätig sich geberdenden dänischen Herrschaft, eine große 
nationale Aufgabe geschaffen, zu deren Lösung die beiden deutschen Großmächte sich zusammen- 
finden konnten und zusammenfanden. Preußen und Osterreich machten, die alte Gegnerschaft 
vergessend, noch einmal gemeinsam im besten Sinne des Wortes deutsche Politik; sie schlugen 
die Schlachten für das kommende Reich und nahmen dem Feinde die deutsche Nordmark ab. 
Im Wiener Frieden vom 30. Oktober 1864 tritt Dänemark die Herzogtümer Schleswig, Holstein 
und Lauenburg an Osterreich und Preußen ab. Mit der Schaffung dieses Kondominates war 
nun freilich weder die kleine noch die große, weder die schleswig-holsteinische noch die deutsche 
Frage gelöst; vielmehr entfalteten sich auf dem engen Raume der Elbherzogtümer aufs neue 
die großen Gegensätze, welche Preußen und Osterreich in der deutschen Sache von jeher getrennt 
hatten. Gebieterisch wies der Gang der Dinge darauf hin, eine Entscheidung darüber herbei- 
zuführen, wem nicht sowohl in den Herzogtümern die Herrschaft als vielmehr in ganz Deutsch- 
land die Vorherrschaft gebühren solle. Einmal noch gelang es, durch das Auskunftsmittel einer 
Teilung des preußisch-österreichischen Kondominats der Ausübung nach (Gasteiner Konvention 
vom 14. August 1865) die Entscheidung über die Machtfrage zwischen den beiden deutschen Groß- 
mächten um knappe Jahresfrist hinauszuschieben. Dann aber ist die Entscheidung von beiden 
Seiten herbeigeführt worden und gefallen. 
Die Anträge Preußens beim Bundestage auf Bundesreform — Februar 1866 — lassen 
die Neugestaltung Deutschlands, welche der Preis des Kampfes um die Vorherrschaft sein sollte, 
deutlich herwortreten. Kühn und glücklich greift die preußische Regierung jetzt wiederum, wie 
schon bei der Ablehnung der österreichischen Reformakte geschehen 2, aus der politischen Hinter- 
lassenschaft des Jahres 1848 den Gedanken wieder heraus, an welchen in vor- wie nachmärz- 
im v. Sybel, Begründung Bd. 3—7; Bismarck, Gedanken und Erinnerungen Bd. 2 
Kap. 19—23; Kloeppel, Verfass Gesch. Bd. 1 S. 49—178; Busch, Die Kämpfe um Reichs- 
verfassung und Kaisertum 1870/71 (1906); Urkundenmaterial bei Hahn, Zwei Jahre preußisch- 
deutscher Politik (1868); Binding, Die Gründung des Norddeutschen Bundes; Meyer- 
Anschütz 61—67; Laband, Staatsr. des Deutschen Reichs Bd. 1 Kap. 1; Haenel, 
Staatsr. 1 S. 14 ff.; Born, Staatsr. des Deutschen Reichs 1 11 ff.; Loening, Grundzüge 
der Verfassung des Deutschen Reiches (2. Aufl.) 4 ff.; Triepel, Zur Vorgzeschichte der Nord- 
deutschen Bundesverfassung, in der Festschrift für Gierke (1911), 589 ff.; Pohl, Die Entstehung 
des belgischen Staatsr. und des Norddeutschen Bundes (1905); Grosch, Die Gründung des 
Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches, im Archiv f. öff. Recht 29, 126 ff. 
: Bericht des preußischen Staatsministeriums an den König vom 15. September 1863, wieder- 
gegeben v. Sybel, 2 538 ff., ferner Staatsarchiv Bd. 8 Nr. 1767, eine der bedeutendsten 
Staatsschriften Bismarcks.
	        
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