Deutsches Staatsrecht. 53
lichen Tagen Herz und Sinn des Volkes am meisten hing: den Gedanken des allgemeinen deutschen
Parlamentes. Nicht sollte damit in die Bahnen der „Volkssouveränetät"“, auf denen das Einheits-
werk der Paulskirche einst gescheitert war, wiederum zurückgelenkt, das deutsche Parlament
nicht als Konstituante berufen werden, sondem als ein Faktor, mit dem die Verfassung des neuen
Deutschlands seitens der Regierungen zu vereinbaren und welches dann als ein organisches
Hauptglied dem künftigen Verfassungsbau einzufügen sein würde. Hierbei unterließ es Bismarck
nicht, zu betonen, wie mit diesem Antritt des Erbes von 1848 gleicherweise dem nationalen
wie dem preußischen Interesse gedient sei; „Preußer kann“" — so führt der in der letzten Note
zitierte Bericht vom 15. September 1863 aus — „in eine Erweiterung der Bundeszwecke und
damit in eine Beschränkung seiner Unabhängigkeit nur dann willigen, wenn ihm eine Garantie
geboten wird, daß dieses Opfer den Gesamtinteressen der deutschen Nation und nicht anderen
Partikularinteressen zugute kommt: eine solche Garantie erkennt aber Preußen nur in
einem aus direkten Volkswahlen hervorgegangenen deutschen
Parlament ...“ „Unser Standpunkt — d. h. die deutsche Politik Preußens — beruht
nicht auf einer politischen Theorie, sondern auf materiellen preußischen Interessen, welche mit
denjenigen der Mehrheit der deutschen Nation identisch sind. Nicht die deutschen Re-
gierungen, sondern das deutsche Volk im überwiegenden Teile
hat mit uns gleiches Interesse. Preußen braucht ein Gegengewicht gegen die
dynastische Politik der Regierungen und kann dasselbe nur in der Nationalvertretung finden“
(Bismarck, 8. Oktober 1863, s. v. Sybel 2, 540). Die gleiche Meinung, wie sie der
Meister des deutschen Einheitsbaues hier äußert, beherrscht auch den Antrag aus Bundesreform,
welchen Preußen am 9. April 1866 beim Bundestage stellte — ein Antrag, welcher den Parla-
mentsgedanken in das schärfste Licht des Vordergrundes rückt, indem er sich aller materiellen
Vorschläge über die künftige Verfassung Deutschlands enthält und lediglich fordert, „eine aus
direkten Wahlen und allgemeinem Stimmrecht der ganzen Nation
herorgehende Versammlung für einen zu bestimmenden Tag einzubermfen, um die Vorlagen
der deutschen Regierungen über eine Reform der Bundesverfassung entgegenzunehmen.“ Ein
diesem Antrag folgendes Rundschreiben der preußischen Regierung (27. April 1866, v. Sy-
bel 4, 329) unterstreicht den „zu bestimmenden Termin“. Der preußische Antrag begehre
zunächst nicht die Aufstellung eines Verfassungsentwurfs, sondem die Berufung eines Parla-
mentes; ohne die selbst auferlegte Nötigung, die in der Festsetzung eines Termins für die Er-
öffnung des Parlamentes liege, würde eine Beratung über die Verfassung sich ergebnislos,
wie so viele frühere, hinschleppen. Der Verständigung der Regierungen über die neue Ver-
fassung sollte also eine Präklusivfrist gesetzt werden. Bei der Konstituierung des Ausschusses,
welchen der Bundestag zur Beratung des preußischen Antrags niedersetzte, trat — 11. Mai
1866 — die preußische Regierung zum erstenmal mit Eröffnungen über den materiellen Inhalt
ihrer Reformpläne hervor. In diesen Mitteilungen (v. Sybel 4, 331 ff.) erscheint an erster
Stelle die Erweiterung der Bundeskompetenz. Weit über die engbrüstigen Zumessungen der
Bundes-= und Schlußakte hinaus soll der Wirkungskreis der Bundesgewalt ähnlich weit sich er-
strecken wie nach den Verfassungsentwürfen von 1849/50; diese Bundesgewalt soll, als gesetz-
gebende Gewalt, ausgeübt werden durch den Bundestag gemeinsam mit einer periodisch zu
berufenden Nationalvertretung, so zwar, daß der übereinstimmende Mehrheits-
beschluß von Bundestag und Nationalvertretung, Regierungen und
Volk, an Stelle der durch die Bundesgrundverträge geforderten Einstimmigkeit der Regierungen
treten, zu einem Bundesgesetze erforderlich und ausreichend sein würde (der Grundgedanke
des heutigen Art. 5 RV.). An zweiter Steele fordemm die Mitteilungen vom 11. Mai eine um-
fassende Reform der deutschen Heeresverfassung.
Ehe indessen der den preußischen Eröffnungen zögernd folgende Bundestagsausschuß
die zu einer Entschließung erforderlichen Instruktionen einholen und erhalten konnte, erfolgte
der Stoß, welcher die deutsche Verfassungsfrage aufrollte und zur Entscheidung brachte, von
anderer Seite her: der Streit um Schleswig-Holstein wurde wiederum zu einem Motor, welcher
die deutschen Dinge vorwärts und weiter brachte. Trotz der Schutzvorkehrungen, welche die
Gasteiner Konvention angeordnet hatte, erwies sich der preußisch--österreichische Kondominat
als eine Quelle steter Reibungen und Konflikte zwischen den beiden Mächten, ein chronisch sich