56 G. Anschütz.
vorzunehmenden Wahlen der Abgeordneten zum Parlament anordnen und letzteres gemein-
schaftlich mit Preußen einbemfen. Zugleich werden sie Bevollmächtigte nach Berlin senden,
um nach Maßgabe der Grundzüge vom 10. Juni d. J. den Bundesverfassungsentwurf fest-
zustellen, welcher dem Parlament zur Beratung und Vereinbarung vorgelegt werden soll.“
Hieraus erwuchsen den verbündeten Regierungen als nächste Vertragspflichten: 1. die
Anordnung der Wahlen zum Parlament und 2. die Entsendung von Bevollmächtigten nach
Berlir zwecks Feststellung des Verfassungsentwurfs. Die Erfüllung der ersten von diesen beiden
Obliegenheiten involvierte die Inkraftsetzung des „Reichswahlgesetzes“ vom 12. April 1849,
also die Erhebung eines vordem nie lebendiges Recht gewesenen Rechtsdenkmals zum Be-
standteil der einzelstaatlichen Rechtsordnung. Ob diese Vollzugshandlung im Wege der Ge-
setzgebung erfolgen mußte oder im Verordnungswege vor sich gehen durfte, ob,
anders ausgedrückt, die Zustimmung der Landtage (Ständeversammlungen) zu der Inkraft-
setzung des Reichswahlgesetzes notwendig oder entbehrlich war, entschied sich nach dem Ver-
fassungsrecht der einzelnen Staaten. Tatsächlich ist die Zustimmung der Landtage (Bürger-
schaften in den Hansestädten) überall eingeholt worden. So vor allem in Preußen. Hier
legte die Regierung (schon am 13. August, also noch vor der Unterzeichnung des Augustbünd-
nisses) dem Landtage, „um für die Wahl zum Parlament in Preußen eine gesetzliche Grund-
lage zu gewinnen“, den „Entwurf eines Wahlgesetzes zum Reichstage des Norddeutschen Bundes“
vor, inhaltlich, den Bestimmungen des Augustbündnisses entsprechend, eine Reproduktion des
Wahlgesetzes von 1849. Dieser Gesetzesvorlage gegenüber machte das Haus der Abgeordneten
von seinem Amendierungsrechte Gebrauch, dahingehend, daß es den Beruf des zu wählenden
Parlaments mit den Worten begrenzte: „Beratung der Verfassung des Norddeutschen
Bundes"“. Mit diesem Zusatz, dem sich die andern Gesetzgebungsfaktoren, Krone und Herren-
haus, fügten, und der in allen anderen Landeswahlgesetzen (mit einziger Ausnahme von Braun-
schweig) nachahmende Aufnahme fand, war eine materielle Anderung in dem durch das August-
bündnis vorgesehenen Bundesgründungsplan bewirkt, eine Anderung, welche von den Re-
gierungen allseits gebilligt wurde und von der Absicht geleitet war, den partikularen Landtagen
eine entscheidende Stimme bei Vollzug des Bundesgründungswerkes nach Feststellung der
Bundesverfassung vorzubehalten. So war es zu verstehen, wenn durch das Amendement des
preußischen Abgeordnetenhauses die im Augustbündnis Art. 5 (s. oben) dem kommenden Parla-
ment zugeschriebene „Beratung und Vereinbarung“" der Bundesverfassung abge-
schwächt war in bloße „Beratung“; es wollte hiermit der Regierung die Ermächtigung versagt
werden, einseitig, über den Kopf des Landtages hinweg, einen Bundesstaat zu gründen, dessen
noch nicht existierende Verfassung geschaffen werden solle in Gemeinschaft mit einem Parla-
ment, welches in seiner Haltung und Unabhängigkeit gegenüber den Regierungen sich im voraus
nicht abschätzen ließ. Dies der Sinn der einzelstaatlichen Wahlgesetze zum „konstituierenden“
Norddeutschen Reichstage.
Im weiteren Vollzuge des Augustbündnisses erfolgte die Abordnung von Bevollmächtigten
der verbündeten Regierungen zur Beratung und Feststellung des Entwurfs der Bundesverfassung
unter Leitung Preußens. Diese Konferenz der verbündeten Regierungen — das Urbild des
Bundesrates — wurde am 15. Dezember 1866 durch den preußischen Ministerpräsidenten mit
der Vorlegung des Verfassungsentwurfes eröffnet.
Der preußische Entwurf vom 15. Dezember 1866 (abgedruckt als „Entwurf II“7 bei Bin-
ding, Staatsgrundgesetze Heft 1, größere Ausgabe, 6. Aufl., 81 ff.; zur Entstehungsgeschichte
desselben vgl. v. Sybel 6 S. 25, v. Keudell, Fürst und' Fürstin ismarck I[19011, 317 ff.,
besonders aber die oben S. 52 Anm. 1 zitierte Schrift' von Triepel) war, wie das Augustbündnis es
vorschrieb, im allgemeinen auf der Basis der Grundzüge vom 10. Juni (oben S. 54) aufgebaut.
Insbesondere läßt er die Bundesgesetzgebung auf den ihr zugewiesenen Gebieten ausüben durch
übereinstimmende Beschlüsse des Bundesrats (wie die in den „Grundzügen“" noch „Bundes-
tag“ genannte ständige Delegiertenkonferenz der verbündeten Regierungen nunmehr heißen sollte)
und des Reichstags (so nennt der Entwurf, der Frankfurter und Erfurter Verfassung folgend,
die „Nationalvertretung“ der „Grundzüge"“). Er unterscheidet sich aber von den Grundzügen urch
die Einführung und starke Ausbildung der preußischen Hegemonie.
Eine Vorrangstellung Preußens war durch die Emstehnss des Bundes wie durch die tat-
sächlichen Machtverhältnisse gegeben, ja geboten. Preußens Schwert und Staatskunst hatten
den Bund geschaffen. Von der Bevölkerung des Bundesgebietes — 30 Millionen — entfielen