Deutsches Staatsrecht. 57
über 24 Millionen, also mehr als vier Fünftel, auf Preußen; das knappe Restfünftel verteilte sich
unter 21 Staaten, deren größter, das Königreich Sachsen, nur eben ein Zehntel der preußischen
Volkszahl aufwies. Diesem Übergewicht entsprechend waren dem führenden Staate weitgehende
Prärogativen übertragen. Im Bundesrate hatte Preußen 17 Stimmen unter 43 (gegen 4 unter
70 im ehemaligen Frankfurter Bundestagsplenum), so daß es nur wenige Kleinstaaten zu ge-
winnen brauchte, um über die Mehrheit zu verfügen. Und außerhalb des Bundesrates waren
dem König von Preußen als „Bundespräsidium“ und als „Bundesoberfeldher“ umfassende Kom-
petenzen hegemonischer Natur auf diplomatischem, militärischem und administrativem Gebiete
zugewiesen; vgl. Näheres hierüber unten # 21, sowie Haenel, Studien 2 9 ff.
Die Konferenz der Bevollmächtigten tagte vorläufig bis zum 7. Februar 1867, an welchem
Tage die Zustimmung Preußens zu einer Anzahl von Abänderungsvorschlägen seiner Ver-
bündeten und eine allseitige Einigung über den in dieser in Einzelheiten, nicht in den grund-
sätzlich wichtigen Punkten geänderten Gestalt dem Reichstage vorzulegenden Verfassungstext
erfolgte (s. diese „Vorlage der verbündeten norddeutschen Regierungen an den verfassungs-
vereinbarenden Reichstag“ vom 7. Febmar 1867 bei Binding a. a. O., S. 81 ff., „Ent-
wurf III7).
Es folgten sodann am 12. Februar 1867 die Wahlen zum Reichtage (dessen Berufung,
Eröffnung, Schließung und Auflösung die verbündeten Regierungen der Krone Preußen über-
tragen hatten), die Eröffnung desselben (24. Februar) und die Beratung des Verfassungs-
entwurfs. Letztere begann am 9. März und schloß am 16. April mit der Totalannahme (230
gegen 53 Stimmen) einer Fassung, die gegenüber der Vorlage sehr wesentliche Abänderungen
(z. B. in der Stellung des Bundespräsidiums und des Bundeskanzlers, s. unten § 21, 23) und
Ergänzungen (Hinzufügung des Abschnitts XI, „Bundesfinanzen“) aufweist. Am 17. April
erklärte der „Vorsitzende der Bundeskommissarien“, Graf Bismarck, die Annahme der Ver-
fassung seitens der verbündeten Regierungen.
Damit befand sich aber die Verfassung noch immer im Stadium des Entwurfsz ihr
Inhalt war, den Bestimmungen des Augustbündnisses entsprechend, festgestellt, aber Leben
und Kraft hatte sie noch nicht (abweichende Ansicht bei Binding, Gründung des Nord-
deutschen Bundes, widerlegt von Laband, Staatsr. 1 24, 25, Haenel, Staatsr. 1 19 ff.,
Meyer-Anschütz S. 164, 165); der Bundesstaat, dessen Grundgesetz sie sein sollte, war
noch nicht gegründet, das Ziel des Augustbündnisses war im einzelnen bezeichnet, aber noch
nicht erreicht. Zu dieser Erreichung bedurfte es, nach jener von dem preußischen Abgeordneten-
hause durchgesetzten ÄAnderung des ursprünglichen Gründungsplanes, erst noch der Vorlage
der Bundesverfassung an die einzelnen Landtage behufs Erteilung der Zustimmung. Dies
geschah. Die überall ohne Weiterungen erteilte Zustimmung hatte nun aber nicht den Sinn,
daß der Inhalt des Bundesverfassungsentwurfs als Landesgesetz votiert werden wollte.
Die Verfassung des Norddeutschen Bundes ist nicht als „übereinstimmendes
Landesgesetz“ behandelt worden, noch als solches zustande gekommen (anderer Meinung
Seydel, Kommentar zur Reichsverfassung, S. 15, und Arndt, Reichsstaatsrecht, S. 31,
Widerlegung bei Haenel, Studien z. deutsch. Staatsrecht 1 53 ff., 75 ff., Laband,
Staatsrecht 1 26 ff.). Das zustimmende Votum der Landtage galt der Verfassung nicht als
Gesetzentwurf, sondern als Verlragsbestandteil, als Zubehör und Anlage
des auf Gründung des Norddeutschen Bundes zielenden Staatsvertrages der deutschen Re-
gierungen, des Augustbündnisses. Mit diesem Votum wollte der preußische, sächsische usw.
Landtag seiner Regierung nicht die Ermächtigung erteilen, die Verfassung als (Landes-)Gesetz
zu sanktionieren und zu publizieren, sondern er wollte sein — bis zu dieser Stunde noch vor-
behaltenes — Jawort dazu geben, daß sein Staat gemeinsam mit den anderen 21 Staaten
den durch die Verfassung definierten Bundesstaat gründe und
ihm beitrete. Der Gründungsakt lag zu dieser Zeit noch immer, ein Bevorstehendes,
in der Zukunft; er folgte aber nunmehr: programmäßig durch übereinstimmende Willenserklärung
der 22 Staaten. Daß diese Willenserklärung nicht in einer Urkunde betätigt und besiegelt
wurde, ist nur ein unschädlicher Formmangel. Der Sache nach handelt es sich darum, ob die
Staaten einstimmig gewollt und erklärt haben, in Gestalt des Norddeutschen Bundes „einen
neuen Staat zu gründen, diesem Staate eine Verfassung zu geben und dieser Verfassung sich