Deutsches Staatsrecht. 63
und Württemberg über den Beitritt zu dieser Verfassung geschlossenen Verträge vom 23. und
25. November 1870“ treten soll. Hierdurch war eine, wie oben gezeigt, bereits am 1. Januar
1871 vollzogene Tatsache, nämlich die Erfüllung und damit Beendigung der Novembewerträge,
mum auch ausdrücklich durch die Reichsgewalt sanktioniert und anerkannt: die Vereinbarungen,
welche die Gründung des Reiches bewirkt hatten, wurden für aufgehoben erklärt, „freilich
und selbstverständlich nicht als historische Tatsachen, aber rechtlich, d. h. in ihrer rechtlichen Binde-
krast“ Gaenel). Die Reichsverfassung vom 16. April 1871 ist daher mit nichten „Vertrag“,
sondemnn Gesetz, und zwar nicht „übereinstimmendes Landesgesetz“" (Seydeh), sondem
Reichsgesetz, nichts als Reichsgesetz. Denn wie ein Blick auf die Verkündigungsformel
(„Wir, Wilhelm . verordnen hiermit im Namen des Deutschen Reiches, nach erfolgter Zu-
stimmung des Bundesrates und des Reichstages, was folgt") lehrt, ist dies Grundgesetz von
denselben Faktoren und in denselben Formen beschlossen, ausgefertigt, publiziert wie jedes
andere Gesetz des Reiches. Die Reichsverfassung ruht auf dem Willen der Reichsgewalt und
auf ihm allein.
Zweiter Teil.
Das geltende deutsche Staatsrecht.
Vorbemerkung.
Der Verlauf der deutschen Einheitsbestrebungen hat, im Gegensatz zu der parallelen Be-
wegung in Italien, nicht zum nationalen Einheitsstaate hingeführt, welcher die historischen
Partikularstaatsgewalten absorbiert, sondern — wie die Einleitung zur Reichsverfassung sagt —
zu einem „wigen Bunde“ der Einzelstaaten, welcher das lebendige Fortbestehen der
letzteren voraussetzt und fordert. Das heutige Deutschland stellt also einen Bund mit fünfund-
zwanzig Gliedern dar, diese Glieder, die Einzelstaaten (reichsoffizielle Bezcichnung: „Bundes-
staaten") sind: die Königreiche Preußen, Bayem, Sachsen, Württemberg, die Großherzog-
tümer Baden, Hessen, Mecklenburg--Schwerin, Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg,
die Herzogtümer Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Koburg-Gotha,
Anhalt, die Fürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß
ä. L., Reuß j. L., Schaumburg-Lippe, Lippe, die Freien Städte Lübeck, Bremen, Hamburg: —
insgesamt zweiundzwanzig Monarchien, von denen wiederum der allergrößte Teil das konstitu-
tionelle System (oben 87) angenommen hat, während nur die beiden Mecklenburg die altständisch-
patrimoniale Verfassungsform beibehalten haben; und drei Stadtrepubliken, welche, in durch-
aus modernisierter Gestalt, den Typus der Freien Reichsstadt der Gegenwart überliefert haben.
Mit rein geographischen wic mit politischen Maßstäben gemessen, sind die Einzelstaaten außer-
ordentlich verschieden an Größe und Bedeutungz ihre Volkszahl schwankt zwischen 40 Millionen
(Preußen) und 46 000 (Schaumburg-Lippe). Die Tatsache, daß der preußische Staat von den
540 700 qkm des Reichsgebietes allein 348 700 bedeckt und drei Fünftel der gesamten Reichs-
bevölkerung seine Untertanen nennt, ist zwar nicht zur Grundlage einer preußischen Hegemonie
in und über Deutschland genommen worden — eine solche Hegemonie besteht, staatsrechtlich
betrachtet, nicht —; man mußf sie sich aber fortdauernd gegenwärtig halten, wenn anders man
das eigenartige politische Gesamtbild des Deutschen Reiches verstehen und die Bedeutung
der tatsächlich lebendigen und wirksamen politischen Kräfte richtig abschätzen will. Im Sinne
einer solchen, reir historisch-politischen Bewertung der deutschen Dinge muß der
Ausspruch Heinrichs v. Treitschke: „Unser Reich ist in Wahrheit der die Mehrheit der
Nation unmittelbar beherrschende preußisch-deutsche Einheitsstaat mit den Nebenlanden, welche
seiner Krone in föderativen Formen untergeordnet sind, oder kurz: die nationale Monarchie mit
bündischen Institutionen“ 1 als richtig anerkannt werden. Aber freilich: was für den Historiker
und Politiker „in Wahrheit wahr“ ist, braucht dies nicht zu sein für die staatsrechtliche
Betrachtungsweise. Für diese ist und bleibt die Wahrheit: das heutige Deutschland. geordnet
1 Preuß. Jahrbücher Bd. 34 S. 536.