Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

64 G. Anschütz. 
durch die Reichsverfassung vom 16. April 1871, ist kein Einheits-, sondern ein zusammengesetzter 
Staat vom Typus des Bundesstaates, in dem auch Preußen, der „führende“ Einzelstaat, nur 
ein Glied ist, wie die anderen Glieder, der Reichsgewalt untertan, wie die anderen. Nähere 
Betrachtung (s. den nächsten Paragraphen) hat die staatlichen und bündischen Momente im 
Bilde der Reichsgewalt aufzuweisen und darzulegen, daß und warum für das Deutsche Reich 
der Name „Bundesstaat“ die rechtswissenschaftliche zutreffende Bezeichnung ist. 
Außer den 25 Einzelstaaten gehört zum Deutschen Reiche noch das Reichsland Elsaß- 
Lothringen und ein starker Bestand von Kolonien, „Schutzgebieten". Reichsland und Schutz- 
gebiete verkörpem eine Ausnahme von der bundesstaatlichen Regel, daß das Bundesgebiet 
restlos in Einzelstaaten aufgehen soll: diese Länder sind weder Einzelstaaten, Glieder des Reichs, 
noch gehören sie zu solchen; in ihnen herrscht nicht, wie sonst allenthalben in Deutschland, neben 
und unter der Reichsgewalt ##ine Einzel-(Landes-staatsgewalt, sondem die Reichsgewalt allein, 
den vollen Raum staatlicher Herrschaft ausfüllend (über die Gemeinsamkeiten, andererseits 
die Verschiedenheiten von Reichsland und Schutzgebieten vgl. unten §§5 24, 25). 
Die systematische Darstellung des deutschen Staatsrechts hat anzuheben mit dem Haupt- 
stück der politischen Organisation Deutschlands, mit der deutschen Zentralgewalt: der Reichs- 
gewalt. 
Erstes Kapitel. 
Das Reich und die Einzelstaaten. 
8 10. 1. Die rechtliche Natur des Reiches 1, 
Wer die hiermit ausgeworfene Frage beantworten will, wird vor allem nach den Ab- 
sichten derjenigen forschen müssen, welche 1866/67 den Norddeutschen Bund gegründet und 
ihn 1870/71 zum Reiche erweitert haben 2. Diesen Absichten hat im verfassungsberatenden 
Reichstage von 1867 Miquel jenen bereits erwähnten, starken und überzeugenden Ausdruck 
gegeben: man sei am Werke, „einen neuen Staat zu gründen, diesem Staate eine 
Verfassung zu geben und dieser Verfassung sich dann zu unterwerfen“. . .. „Wir wollen einen 
wahren Staat gründen, der, wenn es irgend tunlich ist, alle Aufgaben erfüllen kann und 
erfüllen soll, welche ein Staat sich stellen muß.“ Diese Worte, denen niemand widersprach, haben 
den Inhalt der Gründungsabsichten unwiderleglich wichtig gekennzeichnet. Und die Absichten 
sind in die Wirklichkeit umgesetzt, sie sind erreicht worden. Der Norddeutsche Bund war ein 
Gemeinwesen von staatlicher Natur, er war ein Staat. Nach dem 1. Juli 1867 zerfiel 
Deutschland in einen die Länder nördlich des Mains umfassenden Gesamtstaat, eben den Nord- 
deutschen Bund, und die vier souverän gebliebenen süddeutschen Staaten. Von dem Boden 
der bloß völkerrechtlichen Verträge, welche zwischen dem Norddeutschen Bunde und den Süd- 
staaten errichtet wurden, ist man dann — nach der erklärten Absicht der Kontrahenten der 
Novembewerträge, vgl. die oben S. 61 erwähnte Erklärung der bayerischen Regierung — 
vab-= und zu einem Verfassungsbündnisse übergegangen“". Das heißt: man hat aus dem Nord- 
deutschen Bunde und den süddeutschen Staaten ein Gemeinwesen formiert, welches nicht, wie 
eine völkerrechtliche Union oder Allianz, durch Verträge, sondern, wie ein Staat, durch 
eine Verfassung geordnet ist. Der „ewige Bund“, als welchen die deutschen Staaten 
  
Aus der reichhaltigen Literatur: Laband, Staatsr. 1 55 ff.; Haenel, Staatsr. 1, 
Buch 2, und Studien zum Deutsch. Staatsr. Bd. 1, erste Studie; Neyer-Anschütz, Staatsr. 
185 ff.; Zorn, Staatsr. 1 61 ff.; H. Schulze, Lehrbuch des Deutsch. Staatsrechts §§ 25, 245; 
v. Seydel, Kommentar zur Reichsverfassung S. 1 ff.; v. Treitschke, Politik 8§ 21, 22; 
Kloeppel, Verfassungsgeschichte Bd. 1 S. 178 ff.; Loening, Grundzüge der Verfass. d. 
Deutsch. Reichs S. 13 ff.; Otto Mayer, Republikanischer und monarchischer Bundesstaat, 
im Arch. f. öff. R. 18 337 ff.; Rehm, Allgem. Staatslehre 86 ff., 117 ff., 127 ff.; Triepel, 
Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche (1907). 
Über die Ansichten und Absichten Bismarcks: Anschütz, Bismarck und die Reichs- 
verfassung (1899); Rosin, Grundzüge einer allgemeinen Staatslehre nach den polit. Reden 
des Fürsten Bismarck (1898); Kuhlenbeck, Otto v. Bismarck. Reden und Aussprüche zur 
Deutschen Reichsverfassung (1901); v. Roell und Epstein, Bismarcks Staatsr. (1903).
	        
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