68 G. Anschütz.
nur freilich ihre Souveränetät haben sie durch Eintritt in das Reich verloren, nicht aber ihre
Staatlichkeit. Darüber wurde bereits in anderem Zusammenhange (oben § 3, S. 23—25)
gesprochen. Die Lehre, welche die Souveränetät als wesentliches und unentbehrliches Merkmal
des Staates festhalten will, ist für die deutschen Verhältnisse unbrauchbar. Denn sie zwingt
dazu, um des Dogmas willen zu behaupten, daß Preußen vor 1806, mangels formeller Sou-
veränetät, ein Staat nicht gewesen, durch den Untergang des alten Reiches einer geworden sei
und heute, im neuen Reiche, wiederum keiner mehr sei — eine offensichtlich unhaltbare Be-
hauptung. Die deutschen Einzelstaaten sind nicht Nicht-Staaten, weil sie der Souveränetät
entbehren, sondem sie sind Staaten, weil sie organisiert sind wie Staaten, weil sie in dem sach-
lichen Umfange und in den Formen staatlicher Tätigkeit wirken, weil das Völkerrecht sie als
Staaten anerkennt, und — die Hauptsache! — weil sie herrschen kraft eigenen,
nicht abgeleiteten Rechtes. Die Ursprünglichkeit, die Eigenständigkeit ihres Im-
periums ist es, die den Einzelstaaten das Kennzeichen der Staatlichkeit auch femerhin aufprägt.
Sie sind Staaten, denn sie herrschen iure proprio, nicht kraft Delegation und Ermächtigung
der Reichsgewalt. Anderer Meinung — in antipodischem Gegensatze zu dem staatsrechtlichen
Partikularismus Seydels — Zorn (Staatsr. 1 80 ff.), der einerseits aus der richtigen
Prämisse der Nichtsouveränetät der Einzelstaaten den unrichtigen Schluß zieht, letztere seien
keine Staaten, und andererseits es für eine „notwendige Konsequenz"“ der Reichssouveränetät
ausgibt, „daß die den Einzelstaaten verbliebene Rechtssphäre staatsrechtlich als eine vom Reiche
abgeleitete zu betrachten ist“. Danach hätten die Einzelstaaten dem von ihnen ge-
gründeten Reich alles aufgetragen, was sie besaßen, um einen Teil davon lehnsweise zurück-
zuempfangen und diesen Teil nunmehr in Ableitung von der Reichsgewalt zu besitzen. Das
ist, wie Haenel, Staatsr. 1 799, richtig bemerkt, eine vollkommene Verkehrung des Rechts-
und Tatbestandes der Gründungsakte. Die dem Reiche in der Reichsverfassung nicht ausdrück-
lich zugesprochenen Hoheitsrechte sind (vgl. den nächsten Paragraphen) den Einzelstaaten ver-
blieben, und zwar zu demselben Rechte wie bisher: zu eigenem Rechte. Daß das Reich
vermöge seiner Kompetenz-Kompetenz die Hand nach diesen Staatsrechten ausstrecken, sie sich
aneignen kann, ändert daran nichts, daß inzwischen, bis zur Vornahme des Aneignungsaktes,
das betreffende Objekt (Hoheitsrecht) den bisherigen Inhabern, den Einzelstaaten, verbleibt.
Die Uberordnung der Reichsgewalt über die Einzelstaaten ist kein Obereigentum der ersteren
au dem Imperium der letzteren.
Das Deutsche Reich ist also eine Staatenverbindung aus der Klasse der staatsrechtlichen
Staatenverbindungen: ein zusammengesetzter oder Staatenstaat. Die Eigenart dieser Staaten-
verbindung ist von der weitaus überwiegenden Mehrheit der Schriftsteller mit dem Worte
„Bundesstaat“! bezeichnet oder richtiger: es ist die Einreihung des Deutschen Reiches
in eine Gruppe von Staatenverbindungen vollzogen worden, der man seither insbesondere
die Nordamerikanische Union, die Schweiz und das Reich, welches die Frankfurter Paulskirche
1848/49 schaffen wollte, beizählte. Es kann hier unerörtert bleiben, ob unser Reich mit den
Vereinigten Staaten und der Eidgenossenschaft, unter allen Gesichtspunkten betrachtet, in eine
und dieselbe Klasse gehört; sicher ist, daß auf dieses Reich die Bezeichnung „Bundesstaat“ nicht
nur ebensogut, sondern noch besser paßt als auf jene anderen Bünde. Denn gerade in der Ver-
fassung des Deutschen Reiches tritt ienes Merkmal, welches die moderne Staatsrechtswissenschaft
in und an dem Bundesstaatsbegriff besonders urgiert: die Beteiligung der Einzel-
staaten an der Bildung des Willens der Bundesgewalt (vgl. oben §D 2,
S. 16, 17), mit Nachdruck und Schärfe hervor. Der Bundesstaat ist ein Staatenstaat mit
bündischer Verfassung. Das bündische Moment liegt darin, daß die Bundesgewalt (Reichs-
gewalt) einen Willen darstellt, der nicht außer und über der verbundenen Staatengesamtheit,
sondern in ihr selbst seinen Sitz hat, der unter maßgebender, aktiver Anteilnahme der einzelnen
Staaten erzeugt wird. Die Reichsverfassung läßt es sich angelegen sein, diesen spezifisch bundes-
staatlichen, bündischen Gedanken nach Möglichkeit zu verwirklichen. Sie konstruiert die Reichs-
Der amtliche deutsche Sprachgebrauch, dem z. B. auch die oben S. 67 herangezogene Ent-
scheidung des Reichsgerichts folgt, bezeichnet nicht das Reich, sondern den Einzelstaat als „Bundes-
staat". Die „Bundesstaaten“ sind die Einzelstaaten.