Deutsches Staatsrecht. 69
gewalt nicht grumdsätzlich unitarisch, d. h. in einer dem Einheitsstaate tunlichst nahekommenden
Weise, so, daß bei der Bildung und Besetzung der leitenden Organe der Reichsgewalt die Einzel-
staaten und ihre Regierungen ignoriert, geflissentlich außer acht gelassen werden — sondem
föderalistisch, bündisch: die Reichsgewalt ist von den Einzelstaatsgewalten nicht
organisch getrennt, sondern fest mit ihnen verankert und verbunden 1; sie geht an oberster Stelle
von einem geordneten Zusammenwirken der Einzelstaatsgewalten aus, so daß die Gesamtheit
der Vertreter dieser Gewalten — die verbündeten Regierungen im Bundesrat (s. u. § 20) —
als Träger der Reichsgewalt bezeichnet werden muß und in diesem Sinne ohne Rechtsirrtum
gesagt werden kann: die deutschen Einzelstaaten sind keineswegs ein jeder für sich (s. oben),
aber in ihrer korporativen Gesamtheit, als Reich, souverän, und
jeder Staat besitzt, als Entgelt für die verlorene Einzelsouveränetät, einen aktiven Anteil an
der Ausübung der Gesamtsouveränetät, der souveränen Reichsgewalt. Die bündischen, die
Bezeichnung „Bundesstaat" rechtfertigenden Gedanken im Gesamtaufbau der Reichsverfassung
sind also diese: das Reich ist eine korporative Staateneinung, die in ihrer Gesamtheit selbst Staat
ist. Die Glieder dieser Einung, die Einzelstaaten, sind einerseits Untertanen dieser Gesamt-
heit, andererseits deren aktive Mitglieder. Aktive Mitgliedschaft bedeutet: Befugnis
und Pflicht, mitzureden im Rate der Gesamtheit, Anteil zu nehmen an der Bildung des Gesamt-
willens. Diese Mitgliedschaft wird an oberster Stelle ausgeübt im Bundesrate. Dort treten
die bündischen Formen der Reichsverfassung am deutlichsten zutage, dort werden die Einzel-
staaten zum Reichsdienste herangezogen, wird die große nationale Staatengenossenschaft, genannt
das Deutsche Reich, von ihren Mitgliedern selbst regiert; von dort aus soll der tiefste Sinn der
Reichsverfassung sich offenbaren: die Uberwindung des Partikularismus durch den Föderalismus.
8 11. 2. Die Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Einzelstaaten 2.
I. Allgemeines. — Die Kompetenz eines Staatswesens ist der Inbegriff seiner Auf-
gaben und aller Mittel, welche ihm für die Lösung dieser Aufgaben zu Gebote stehen. Im Ein-
heitsstaate existiert das Problem nicht, von dem hier die Rede ist; es gibt nur eine Staats-
gewalt, der die Totalität aller Staatszwecke und aller zu ihrer Erreichung dienlichen Mittel zu-
steht: es fehlt an der Voraussetzung einer Kompetenzverteilung, an der Zweiheit der Staats-
gewalt. Diese Zweiheit ist im Bundesstaate gegeben. Die gesamte Kulturarbeit des Staates
für sein Volk wird hier nicht von einer einzigen, alles in allem vorstellenden Staatsgewalt ge-
leistet, sondern von der Bundesgewalt einerseits, den Einzelstaatsgewalten, jeder für ihr Gebiet,
andererseits. Damit erhebt sich, als ein Gebot politischer Vermunft, für jeden Bundesstaat,
also auch für das Deutsche Reich, die Forderung einer planmäßigen Aufteilung der staatlichen
Gesamtkompetenz zwischen Bund und Gliederm, zwischen Reich und Land. Die Reichs-
verfassung genügt dieser Forderung. Die in dem Verfassungstext enthaltenen kompetenz-
verteilenden Bestimmungen sind nicht, wie dies früher zuweilen (unter dem Einflusse der Bundes-
staatstheorie von G. Waitz; vgl. Laband, Staatsr. 1 58 ff.; v. Seydel, Komm.
S. 3 ff.) unrichtigerweise geschah, so aufzufassen, als habe damit eine Teilung der Sou-
veränetät“ zwischen Reich und Einzelstaaten bewirkt werden wollen. Denn, wie oben
S. 23, 24 ausgeführt: Souveränetät läßt sich nicht teilen; eine halbe Souveränetät ist gar keine.
Die Absicht der Reichsverfassung geht denn auch nicht auf eine solche in sich perplexe Souveräne=
tätsteilung: was verteilt werden soll, ist nicht die RHechtsmachtüberdie Kompetenz
— diese steht vielmehr allein, ungeteilt, der souveränen Reichsgewalt zu —, sondern die
einzelnnen Bestandteile und Stücke der Kompetenze die staatlichen Tätigkeits-
gebiete und Tätigkeitssormen. Diese Verteilung, die Abgrenzung dessen, was in Deutschland
Reichs-, was Landesangelegenheit sein soll, ist in der Reichsverfassung bewirkt; allfällige Kom-
1 Uber dieses Grundprinzip der RB. vgl. Rehm, Unitarismus und Föderalismus in der
deutschen Reichsverfassung (1898); Anschütz, Bismarck und die NV. (1899) S. 14 ff., 26 ff.;
Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche (1907).
„: Haenel, Staatsr. Bd. 1 von § 33 ab bis zu Ende; Meyer-Anschütz §8§ 80, 81;
v. Seydel, Komm. zur RVerf. S. 58 ff.