70 G. Anschütz.
petenzzweifel können nur nach der Reichsverfassung durch die Reichsgewalt selbst entschieden
werden. Gerade hierin tritt die Souveränetät der Reichsgewalt zutage.
Die kompetenzverteilenden Normen sind durch den ganzen Verfassungstext zerstreut.
Die grundsätzlich wichtigsten und zugleich ausführlichsten Bestimmungen einschlägigen Inhalts
bringt Art. 4, der dann aber durch eine Fülle von Spezialvorschriften — Titel VIX III der
RV. — teils ergänzt, teils modifiziert wird. Die allgemeine Bezeichnung der Reichszwecke:
Schutz des Bundesgebietes usw. in dem Eingange der Verfassung ist für die Abgrenzung
der Reichs- von der Landeskompetenz bedeutungslos, da, wie oben S. 65 erwähnt, diesen
Eingangsworten eine dispositive, normative Kraft überhaupt nicht beigelegt werden kann.
Das System der kompetenzverteilenden Normen ist das, die Kompetenz des Reiches durch
positive Vorschriften, die Kompetenz der Einzelstaaten dagegen negativ zu bestimmen. Dem
Reiche gebührt nur, was ihm die Reichsverfassung vindiziert; es hat nur diejenigen Staats-
hoheitsrechte, welche ihm die Verfassung übertragen hat, einschließlich derjenigen, welche aus
seiner Eigenschaft als souveräner Staat von selbst folgen, der Einzelstaat alle die, welche ihm
durch die Reichsverfassung nicht entzogen sind. Man kann diesen, in der Reichsverfassung nicht
formulierten, dennoch aber zweifellos zu Recht bestehenden Auslegungsgrundsatz auch dahin
ausdrücken, daß im Zweifelsfalle die Vermutung für die einzelstaatliche und gegen die Reichs-
kompetenz streitet.
II. Die gemeingültige Kompetenz des Reiches. — Der grundlegende Art. 4 RV.1 führt
die Kompetenzverteilung zwischen Reich und Land mittels Ziehung einer doppelten
Kompetenzgrenze durch. Er läßt sich nur verstehen auf der Grundlage des oben S. 26 dar-
gelegten Unterschiedes zwischen den Tätigkeitsgebieten und Tätigkeitsformen der Staatsgewalt.
Er verteilt einerseits die materielle Kompetenz (den Inbegriff der staatlichen Tätigkeits-
gebiete), andererseits die formelle (die Gesamtheit der Tätigkeits formen), und
zwar in der Art, daß zunächst eine Reihe bestimmt bezeichneter Tätigkeitsgebiete — „An-
gelegenheiten“, wie Art. 4 sagt — für den Wirkungskreis der Reichsgewalt in Anspruch
1 Artikel 4 der RV. lautet in der gegenwärtig geltenden Fassung: Der Beaufsichtigung
seitens des Reichs und der Gesetzgebung desselben unterliegen die nachstehenden Angelegenheiten:
1. die Bestimmungen über Freizügigkeit, Heimaths- und Niederlassungsverhältnisse, Staats-
bürgerrecht, Paßwesen und Fremdenpolizei und über den Gewerbebetrieb, einschließlich
des Versicherungswesens, soweit diese Gegenstände nicht schon durch den Artikel 3 dieser
Verfassung erledigt sind, in Bayern jedoch mit Ausschluß der Heimaths- und Niederlassungs-
verhsltnisse, desgleichen über die Kolonisation und die Auswanderung nach außerdeutschen
ändern;
die Zoll= und Handelsgesetzgebung und die für Zwecke des Reichs zu verwendenden Steuern;
die Ordnung des Maaß-, Münz= und Gewichtssystems, nebst Feststellung der Grundsätze
über die Emission von fundirtem und unfundirtem Papiergelde;
die allgemeinen Bestimmungen über das Bankwesen;
die Erfindungspatente;
der Schutz des geistigen Eigenthums;
Organisation eines gemeinsamen Schutzes des Deutschen Handels im Auslande, der Deutschen
Schiffahrt und ihrer Flagge zur See und Anordnung gemeinsamer konsularischer Ver-
tretung, welche vom Reiche ausgestattet wird;
8. das Eisenbahnwesen, in Bayern vorbehaltlich der Bestimmung im Artikel 46 und die Her-
stellung von Land-- und Wasserstraßen im Interesse der Landesvertheidigung und des all-
gemeinen Verkehrs;
9. der Flößerei= und Schiffahrtsbetrieb auf den mehreren Staaten gemeinsamen Wasser-
straßen und der Zustand der letzteren, sowie die Fluß= und sonstigen Wasserzölle; desgleichen
die Seeschiffahrtszeichen (Leuchtfeuer, Tonnen, Baken und sonstige Tagesmarken);
10. das Post= und Telegraphenwesen, jedoch in Bayern und Württemberg nur nach Maßgabe
der Bestimmung im Artikel 52;
11. Bestimmungen über die wechselseitige Vollstreckung von Erkenntnissen in Civilsachen und
Erledigung von Requisitionen überhaupt;
12. sowie über die Beglaubigung von öffentlichen Urkunden;
13. die gemeinsame Gesetzgebung über das gesamte bürgerliche Recht, das Strafrecht und das
gerichtliche Verfahren; ·
14. das Militairwesen des Reichs und die Kriegsmarine;
15. Maaßregeln der Medizinal- und Veterinairpolizei;
16. die Bestimmungen über die Presse und das Vereinswesen.
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