74 G. Anschütz.
Mittel des Beaufsichtigungsrechts in der RV. nichts bestimmt; fest steht jedenfalls, daß Bundes-
rat, Kaiser und Reichskanzler das Recht haben, von den Einzelstaatsregierungen über Vor-
kommnisse, welche zu aufsichtlichem Einschreiten Anlaß geben können, Auskunft und volle Klar-
legung des Sachverhalts zu verlangen.
Als Zwangsmittel zur Durchführung der Beaussichtigungsakte ist nur die Reichsexekution
nach Art. 19 RV. gegeben.
8 13. A. Die Rechte der Einzelstaaten.
I. Begriff und Arten. — Es ist die Rede von den Rechten, welche den deutschen Einzel-
staaten im Reich und gegenüber der Reichsgewalt zustehen (Staatenrechte i. e. S.). Die
Staatenrechte bilden das Gegenstück zu den Pflichten der Einzelstaaten; beides, Rechte
und Pflichten, zusammengehalten, ergibt das Bild der Stellung der Staaten im Reich. Diese
Stellung ist, der in § 10 erörterten bundesstaatlichen Natur des Reiches zufolge, diejenige des
Untertans einer korporativen Gesamtheit, welcher zugleich Mitglied dieser Gesamtheit und Mit-
träger ihrer Gewalt ist; der Einzelstaat als Untertan ist Pflicht subjekt, der Einzelstaat
als Mitglied dagegen Rechts subjekt gegenüber der Reichsgewalt. Die Pflichten der
Einzelstaaten im Reich („verfassungsmäßige Bundespflichten“, Art. 19 RV.) sind nicht völker-
rechtliche, sonderm staatsrechtliche, nicht Vertragspflichten unter- und gegeneinander, sondern
Gehorsamspflichten gegenüber einer staatsrechtlich übergeordneten souveränen Gewalt; die
Erfüllung dieser Pflichten ist nicht Selbstbindung an den eigenen, sondern rechtlich notwendige
Unterwerfung unter einen fremden, höheren Willen. In alledem zeigt sich der scharfe begriff-
liche Gegensatz des Reiches, als eines Bundesstaates, zu jeglicher Form des Staatenbundes,
insbesondere zu dem ehemaligen Deutschen Bund (s. oben § 6). Jede Anwendung des Völker-
rechts auf die Erfüllung oder Nichterfüllung der einzelstaatlichen Pflichten ist absolut aus-
geschlossen: niemals kann sich der Einzelstaat als Untertan der Reichsgewalt dieser gegenüber
auf das Völkerrecht berufen. Verletzt ein Einzelstaat die Reichsverfassung, so begeht er, bei
sonst zutreffenden Merkmalen dieses strafrechtlichen Tatbestandes, allerdings „Hochverrat“
(was v. Seydel, Kommentar S. 33, leugnen möchte), nicht bloßen „Vertragsbruch“.
Gleiche Gesichtspunkte gelten wie für die Pflichten so für die Rechte der Einzelstaaten.
Auch hier muß der Gedanke, als sei das Deutsche Reich ein staatenbündisches Vertragsverhältnis,
von vornherein mit allen seinen Konsequenzen abgewiesen werden. Ebensowenig wie die
Pflichten stehen die Rechte der Staaten auf dem Boden des Völkerrechts. Sind die Pflichten
ihren Trägern von der Reichsgewalt einseitig auferlegt, so sind die Rechte einseitig ver-
liehen. Wie die Auferlegung so kann auch die Verleihung rückgängig gemacht werden durch
Ausspruch des hierzu Befugten: dieser ist aber das Reich allein. Was immer an Rechten der
Einzelstaaten denkbar und nachweisbar sein mag, es steht unter der gesetzgebenden und ver-
fassungsändermden Gewalt des Reiches, nicht über ihr. —
Die Staatenrechte gliedern sich in drei Gruppen oder Kategorien. Das Wesen jeder der
drei ergibt sich aus folgenden Sätzen: Jeder Einzelstaat hat das Recht auf freien Besitz und
Gebrauch der ihm durch die Reichsverfassung nicht entzogenen, also belassenen (s. oben § 11, 1)
Hoheitsrechte. Jeder hat den Anspruch auf Gewährung derjenigen Leistungen, welche dem
Reiche seinen Einzelstaaten gegenüber nach Verfassung und Gesetz obliegen. Jeder endlich hat
das Recht auf verfassungsmäßige Beteiligung bei der Bildung des Reichswillens 1.
Die erste Gruppe zeigt einen Bestand von Rechten, welche sich der Reichsgewalt gegen-
über negativ äußern: die Reichsgewalt soll sich nicht in Angelegenheiten mischen, welche
ihr nach der Verfassung entzogen sind, und der Einzelstaat hat einen Rechtsanspruch auf diese
Nichtinterention in seine „reichsfreie Sphäre“. Letztere umfaßt insbesondere: das Recht un-
gehinderter gesetzgeberischer, richterlicher und vollziehender Tätigkeit in denjenigen Angelegen-
heiten, welche Art. 4 RV. nicht zur Kompetenz des Reiches zieht (vgl. oben § 11, II), das Recht
des Vollzuges der Reichsgesetze unter Aufsicht des Reiches, das Recht der Einzelstaaten, unter-
1 Diese Dreiteilung ist im wesentlichen derienigen analog, welche Jellinek seinem
System der subjektiven öffentlichen Rechte mit der Terminologie: „negativer“, „positiver“, „aktiver“
Status zugrunde legt. Vgl. Jellinek, System S. 94 ff., 294 ff., sowie unten # 17.