Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Staatsrecht. 75 
einander und mit dem Ausland nach Maßgabe der Regeln des Völkerrechts Verkehr zu pflegen, 
soweit die Reichsverfassung dem nicht entgegensteht (vgl. unten 8 45). 
Im Gegensatz zu dieser ersten Kategorie der Staatenrechte weist die zweite einen posi- 
tiven Charakter auf; die Mitglieder des Reiches begehren vom Reich ein dare facere praestare. 
Hierher gehörig: der Anspruch des Einzelstaates auf den Schutz des Reiches, dem Auslande 
gegenüber durch Anwendung der den deutschen Einzelstaaten versagten Machtmittel des Völker- 
rechts, anderen Einzelstaaten gegenüber durch Handhabung des obersten Richteramtes gemäß 
Art. 76 RV. Femer: Anspruch der Staaten auf Gewährung der ihnen zustehenden Dota- 
tionen aus der Reichskasse („Überweisungen“; s. unten § 47). 
Die dritte Gruppe der Staatenrechte enthält die Mitgliedschaftsrechte der 
Einzelstaaten im engeren und eminenten Sinne (aktive Mitgliedschaftsrechte). Es zeigt 
sich hier, daß das bundesstaatliche Prinzip der Beteiligung der Einzelstaaten an der Bildung 
des Reichswillens nicht nur einerseits einen objektivrechtlichen Verfassungsgrundsatz darstellt, 
sondern auch andererseits einen Komplex subjiektiver Rechte erzeugt: jeder Einzelstaat hat einen 
Rechtsanspruch darauf, an der Bildung des Willens der Reichsgewalt denjenigen Anteil zu 
nehmen, welchen nach Art und Maß die Reichsverfassung bestimmt. Individualrechtliche 
Analogie: die staatsbürgerlichen oder politischen Rechte der einzelnen im konstitutionellen 
Staate. Es gehören zu der hier in Rede stehenden Kategorie von Staatenrechten: das Recht 
auf Vertretung im Bundesrate und dessen Ausschüssen nach Maßgabe von Art. 6 
und 8 der RV. sowie die Präsidialrechte Preußens (Anrecht auf die Kaiserwürde, 
Vorsitz und Vetorechte im Bundesrat, Art. 5 Abs. 2 und 37 N.). 
II. Gleichberechtigung und Sonderrechte. — Die ausländischen Bundesstaaten, Nord- 
amerika und die Schweiz, führen den Grundsatz der Gleichberechtigung der Staaten (Kantone) 
im Verhältnis zur Bundesgewalt streng durch; anders und abweichend die Reichsverfassung. 
Nur im Bereiche der oben als zweite Gruppe der Staatenrechte ausgesonderten, positiven 
Ansprüche der Einzelstaaten an das Reich herrscht gleiches Recht für alle, soferm hier wenigstens 
der Art nach kein Recht besteht, welches nicht jedem Einzelstaate zustünde. Dagegen sind im 
Bereiche der oben als Gruppe 1 und 3 vorgestellten Rechte mannigfache Ungleichheiten 
bemerkbar: der eine Staat hat materiell weitergehende Rechte als der andere. Beispielsweise 
erfreut sich Bayern einer größeren reichsfreien Sphäre als alle anderen Einzelstaaten; in diesem 
Staate hat die Reichsgewalt eine weit geringere Kompetenz als in Württemberg oder Sachsen. 
Anderseits hat Bayern einen stärkeren Einfluß auf die Bildung des Reichswillens als 
Württemberg und Preußen wiederum einen stärkeren Einfluß als Bayem: Bayem hat 
6 Stimmen im Bundesrate, Preußen 17, dazu die Präsidialrechte. Es gibt also faktische Un- 
gleichheiten sowohl im Bestande der negativen wie der aktiven Staatenrechte. Aus dieser Tat- 
sache darf man jedoch nicht ohne weiteres den Schluß ziehen, daß jedes Mehr an Freiheit 
oder Macht, welches ein Einzelstaat im Vergleich mit anderen besitzt, für ihn ein Privi- 
legium im Rechtssinne, ein Sonderrecht bedeute. Das Wesen des Sonder- 
rechts beruht darin, daß es ein Ausnahm e recht, die Durchbrechung einer Regel darstellt. 
Die Behauptung, daß jede durch die Reichsverfassung angeordnete tatsächliche Bevorzugung 
eines Einzelstaates vor anderen den Gegenstand eines Sonderrechts bilde, unterstellt daher 
als allgemeine Regel des Reichsverfassungsrechts die abstrakte Gleichberechtigung aller Staaten, 
— eine, wie oben hervorgehoben, unrichtige Unterstellung. Häufig ist das, was objektiv als 
Rechtsungleichheit, als Bevorrechtung eines Staates erscheint, gerade kein Sonderrecht, weil 
damit keine Ausnahme von einer Regel statuiert, vielmehr einer Regel Ausdruck ge- 
geben, ein Verfassungsprinzip nicht durchbrochen, sondern bestätigt und ausgestaltet werden 
wollte. Dieser Gesichtspunkt trifft jedenfalls zu bei den Ungleichheiten im Bestande der aktiven 
Mitgliedschaftsrechte, insbesondere bei der Abstufung des Stimmgewichts der Staaten im 
Bundesrat. Mit der Zuteilung einer erhöhten Stimmenzahl an die größeren Einzelstaaten, 
mit der Anordnung, daß Bayern sechs Stimmen hat, Lippe oder Lübeck nur eine, bewirkt die 
Reichsverfassung nicht eine Ausnahme von der Regel, sondern sie bringt eine Regel — die 
nämlich, daß das Stimmgewicht jedes Einzelstaates im Bundesrate nach seiner Größe und 
politischen Bedeutung abgewogen sein soll — zur Geltung.
	        
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