Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

80 G. Anschütz. 
rungen ihrer Gebiete selbständig und unabhängig voneinander vomehmen dürfen, oder ob und 
inwieweit zu gebietsverändernden Dispositionen ein Zusammenwirken der Reichs= und der 
beteiligten Landesstaatsgewalt erforderlich ist. Die verschiedenen möglichen Fälle sind zu 
unterscheiden. 
A. Gebietsabtretungen. 1. Abtretung von Reichsgebietsteilen an das Aus- 
land. Nach den oben angegebenen allgemeinen Grundsätzen reicht die Gebietshoheit des 
Reichs, sofern sie mit der Gebietshoheit der Einzelstaaten zusammentrifft, nicht weiter als 
die aktuelle Kompetenz des Reichs überhaupt und ist hieraus, wie geschehen, zu folgem, daß 
die Zession von Reichsgebiet, welches zu einem Einzelstaate gehört, von der Reichsgewalt ohne 
und wider den Willen dieses Einzelstaates rechtsgültig nur verfügt werden darf im Gefolge 
der Ausübung einer dem Reiche zustehenden Kompetenz, welche die Vornahme von Gebiets- 
zessionen gegebenenfalls von selbst mit sich bringt. Die oben beispielsweise angeführte Kom- 
petenz des Reiches zum Abschluß von Friedensverträgen und folgeweise auch zu Abtretungen 
von Gebietsteilen eines Einzelstaates, ja selbst ganzer Einzelstaaten an das Ausland ist nach 
dem geltenden Verfassungsrecht die einzige dieser Art. Allein und unbeschränkt zuständig ist 
das Reich selbstverständlich zur Abtretung solcher Teile bzw. Pertinenzen seines Gebietes, welche 
einer Einzelstaatsgewalt nicht unterworfen sind (Reichsland, Schutzgebiete). 
Im übrigen, also im allgemeinen, gehört die Vornahme von Gebietszessionen zur Zu- 
ständigkeit der Einzelstaaten. Es ist ihnen durch die RV. nicht verboten, also erlaubt, aus 
gleichviel welchen Beweggründen (z. B. zu Grenzregulierungszwecken) Gebietsteile an das 
Ausland abzutreten. Nur daß sie freilich außerstande sind, durch derartige Dispositionen die 
in Art. 1 RV. festgelegte Reichsgrenze zu ändern. Um die von dem beteiligten Einzelstaate 
an den auswärtigen Staat zedierte Fläche aus dem Reichsverbande zu entlassen, bedarf es 
noch eines Weiteren: einer dem einzelstaatlichen Zessionsakt (dem principale) als notwendiges 
accessorium hinzutretenden, in den Formen des verfassungsändernden Reichsgesetzes sich voll- 
ziehenden Erklärung der Reichsgewalt. So sind die zwischen Baden und der Schweiz 
wegen Regulierung der Grenze bei Konstanz bzw. Basel abgeschlossenen Verträge vom 28. April 
1878 und 21. Dez. 1906 durch zwei Verträge des Reiches mit der Schweiz vom 24. Juni 1879 
(REl. 307) und vom 29. Okt. 1907 (RBl. 494) „für das Reich als rechtsgültig anerkannt" 
worden (es muß vorausgesetzt werden, daß bei der Genehmigung dieses Reichsvertrages durch 
Bundesrat und Reichstag die Formen der Verfassungsänderung beobachtet sind); — so hat 
femer das Reich vermittelst der oben erwähnten, materiell verfassungsändernden Reichsgesetze 
vom 22. Januar 1902 (RG#l. 31, 32) seine „Zustimmung“ dazu erteilt, daß Preußen 
gewisse, genau bezeichnete Gebietsteile an Osterreich bzw. an Dänemark abtrete (ähnlich RG. 
über die Verlegung der deutsch-schweizerischen Grenze vom 31. Juli 1908, Rl. 497). 
2. Zu Abtretungen von Landesteilen eines Einzelstaates an einen andern Einzelstaat 
bedarf es der Mitwirkung und Zustimmung der Reichsgewalt nicht, da hierdurch das Reichs- 
gebiet nicht verändert, die Reichsgrenzen nicht verschoben werden: nur die Auslands., 
nicht die Binnen grenzen der deutschen Einzelstaaten sind durch Art. 1 RV. als Reichs- 
grenze festgelegt. In der Folgerichtigkeit dieses Grundsatzes ist aber die Notwendigkeit der 
Reichsgenehmigung selbst für den Fall in Abrede zu stellen, wo es sich um die Abtretung eines 
Einzelstaates im ganzen, um die Vereinigung desselben mit einem anderen Einzelstaate handelt. 
(Bestritten. Zustimmend: Laband 1 130ff., Schulze, Deutsches Staatsrecht 2 § 246 
S. 8 ff.; dagegen v. Seydel, Komm. S. 37; Haenel, Staatsr. 1 347, 348.) So erfolgte 
die Umwandlung der Personalunion zwischen Preußen und dem Herzogtum Lauenburg in eine 
vollständige Inkorporation Lauenburgs in Preußen 1876 ohne Intewention der Reichsgewalt; 
so würde z. B. durch einen Staatsvertrag zwischen Preußen und dem mit ihm schon jetzt durch 
sog. Akzessionsverträge aufs engste verbundenen Fürstentum Waldeck die Vereinigung dieses 
Kleinstaates mit der preußischen Monarchie bewirkt werden können (analoger Vorgang: Ver- 
einigung der hohenzollernschen Fürstentümer mit Preußen durch den oben S. 13 erwähnten 
Staatsvertrag vom 7. Dezember 1849) 1. 
1 Die Rechtsbeständigkeit solcher Fusionen und Inkorporationen — gleichviel, aus welchem 
Grunde sie eintreten: Thronfolgerecht, Staatsverträge usw. — ist also durch die Genehmigung
	        
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