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rungen ihrer Gebiete selbständig und unabhängig voneinander vomehmen dürfen, oder ob und
inwieweit zu gebietsverändernden Dispositionen ein Zusammenwirken der Reichs= und der
beteiligten Landesstaatsgewalt erforderlich ist. Die verschiedenen möglichen Fälle sind zu
unterscheiden.
A. Gebietsabtretungen. 1. Abtretung von Reichsgebietsteilen an das Aus-
land. Nach den oben angegebenen allgemeinen Grundsätzen reicht die Gebietshoheit des
Reichs, sofern sie mit der Gebietshoheit der Einzelstaaten zusammentrifft, nicht weiter als
die aktuelle Kompetenz des Reichs überhaupt und ist hieraus, wie geschehen, zu folgem, daß
die Zession von Reichsgebiet, welches zu einem Einzelstaate gehört, von der Reichsgewalt ohne
und wider den Willen dieses Einzelstaates rechtsgültig nur verfügt werden darf im Gefolge
der Ausübung einer dem Reiche zustehenden Kompetenz, welche die Vornahme von Gebiets-
zessionen gegebenenfalls von selbst mit sich bringt. Die oben beispielsweise angeführte Kom-
petenz des Reiches zum Abschluß von Friedensverträgen und folgeweise auch zu Abtretungen
von Gebietsteilen eines Einzelstaates, ja selbst ganzer Einzelstaaten an das Ausland ist nach
dem geltenden Verfassungsrecht die einzige dieser Art. Allein und unbeschränkt zuständig ist
das Reich selbstverständlich zur Abtretung solcher Teile bzw. Pertinenzen seines Gebietes, welche
einer Einzelstaatsgewalt nicht unterworfen sind (Reichsland, Schutzgebiete).
Im übrigen, also im allgemeinen, gehört die Vornahme von Gebietszessionen zur Zu-
ständigkeit der Einzelstaaten. Es ist ihnen durch die RV. nicht verboten, also erlaubt, aus
gleichviel welchen Beweggründen (z. B. zu Grenzregulierungszwecken) Gebietsteile an das
Ausland abzutreten. Nur daß sie freilich außerstande sind, durch derartige Dispositionen die
in Art. 1 RV. festgelegte Reichsgrenze zu ändern. Um die von dem beteiligten Einzelstaate
an den auswärtigen Staat zedierte Fläche aus dem Reichsverbande zu entlassen, bedarf es
noch eines Weiteren: einer dem einzelstaatlichen Zessionsakt (dem principale) als notwendiges
accessorium hinzutretenden, in den Formen des verfassungsändernden Reichsgesetzes sich voll-
ziehenden Erklärung der Reichsgewalt. So sind die zwischen Baden und der Schweiz
wegen Regulierung der Grenze bei Konstanz bzw. Basel abgeschlossenen Verträge vom 28. April
1878 und 21. Dez. 1906 durch zwei Verträge des Reiches mit der Schweiz vom 24. Juni 1879
(REl. 307) und vom 29. Okt. 1907 (RBl. 494) „für das Reich als rechtsgültig anerkannt"
worden (es muß vorausgesetzt werden, daß bei der Genehmigung dieses Reichsvertrages durch
Bundesrat und Reichstag die Formen der Verfassungsänderung beobachtet sind); — so hat
femer das Reich vermittelst der oben erwähnten, materiell verfassungsändernden Reichsgesetze
vom 22. Januar 1902 (RG#l. 31, 32) seine „Zustimmung“ dazu erteilt, daß Preußen
gewisse, genau bezeichnete Gebietsteile an Osterreich bzw. an Dänemark abtrete (ähnlich RG.
über die Verlegung der deutsch-schweizerischen Grenze vom 31. Juli 1908, Rl. 497).
2. Zu Abtretungen von Landesteilen eines Einzelstaates an einen andern Einzelstaat
bedarf es der Mitwirkung und Zustimmung der Reichsgewalt nicht, da hierdurch das Reichs-
gebiet nicht verändert, die Reichsgrenzen nicht verschoben werden: nur die Auslands.,
nicht die Binnen grenzen der deutschen Einzelstaaten sind durch Art. 1 RV. als Reichs-
grenze festgelegt. In der Folgerichtigkeit dieses Grundsatzes ist aber die Notwendigkeit der
Reichsgenehmigung selbst für den Fall in Abrede zu stellen, wo es sich um die Abtretung eines
Einzelstaates im ganzen, um die Vereinigung desselben mit einem anderen Einzelstaate handelt.
(Bestritten. Zustimmend: Laband 1 130ff., Schulze, Deutsches Staatsrecht 2 § 246
S. 8 ff.; dagegen v. Seydel, Komm. S. 37; Haenel, Staatsr. 1 347, 348.) So erfolgte
die Umwandlung der Personalunion zwischen Preußen und dem Herzogtum Lauenburg in eine
vollständige Inkorporation Lauenburgs in Preußen 1876 ohne Intewention der Reichsgewalt;
so würde z. B. durch einen Staatsvertrag zwischen Preußen und dem mit ihm schon jetzt durch
sog. Akzessionsverträge aufs engste verbundenen Fürstentum Waldeck die Vereinigung dieses
Kleinstaates mit der preußischen Monarchie bewirkt werden können (analoger Vorgang: Ver-
einigung der hohenzollernschen Fürstentümer mit Preußen durch den oben S. 13 erwähnten
Staatsvertrag vom 7. Dezember 1849) 1.
1 Die Rechtsbeständigkeit solcher Fusionen und Inkorporationen — gleichviel, aus welchem
Grunde sie eintreten: Thronfolgerecht, Staatsverträge usw. — ist also durch die Genehmigung