82 G. Anschütz.
Machtstellung außerhalb des Reichs schlechthin verbieten. Die vorgestellte Situation würde
zuletzt damit endigen, daß der Einzelstaat, welcher sich ohne Vorwissen und wider das Interesse
des Reichs mit fremdem Gebiet vergrößert hat, durch exekutivische Anordnungen und Maß-
regeln der Reichsgewalt (Art. 19 RV.) gezwungen wird, seine Erwerbung wieder aufzugeben.
!I. Die Angehörigen.
8 15. 1. Staatsangehörige und Fremde 1½.
Der moderne Staat beruht, wie oben § 1 S. 5 ff. dargelegt, auf dem Genossenschafts-
gedanken; er ist ein korporativer Verband, dessen Mitglieder Menschen sind. Diese Mitglieder
heißen in dieser ihrer Eigenschaft Staatsangehörigesz sie unterscheiden sich nach Recht
und Pflicht scharf von den Individuen, die in einem Staate wohnen oder sich dort aufhalten,
ohne ihm anzugehören: den Fremden. Inhalt der Staatsangehörigkeit ist ein Inbegriff
von Pflichten und Rechten gegen den Staat. Die Pflichtseite des Staatsangehörigkeitsverhält-
nisses wird vorzugsweise mit dem Worte „Untertan“, die Rechtsseite mit „Staatsbürger“ be-
zeichnet: der Staatsangehörige als Träger von Pflichten ist und heißt Untertan, als
Subjekt von Rechten Bürger seines Staates. Auf die Rechte der Staatsangehörigen gegen-
über der Staatsgewalt ist unten, § 17, zurückzukommen.
Im Gegensatz zu den Staatsangehörigen stehen die Fremden. Der bundesstaatliche
Charakter des Reichs bringt es mit sich, daß nach deutschem Staatsrecht zwei Kategorien von
Fremden zu unterscheiden sind. „Fremder"“ im Verhältnis zur Reichsgewalt wie zu jeder
Einzelstaatsgewalt ist zunächst und im engeren, eigentlichen Sinne der Ausländer, d. h.
der Nicht-Reichsangehörige, der Nichtdeutsche. „Fremder“ für den Einzelstaat ist fermer
aber auch der landesfremde Reichsangehörige, d. h. der Reichsangehörige,
welcher und solange er sich in dem Gebiete eines Einzelstaates aufhält, dessen Angehöriger er
nicht ist.
Die Stellung der Fremden gegenüber der Staatsgewalt ihres Wohnsitzes bzw. Auf-
enthaltes ist nun nicht etwa Rechtlosigkeit, verbunden mit Pflichtlosigkeit. Pflichtlos ist der
Fremde keinesfalls: mit dem Rechtssprichwort „quod est in territorio est de territorio“" wird
zutreffend ausgedrückt, daß die Staatsherrschaft ohne Unterschied jeden Gegenstand und jeder-
mann ergreift, der sich innerhalb des Staatsgebietes befindet, — daß also dem Fremden mindestens
die Pflicht des Gehorsams gegen die ihn angehenden Gesetze und rechtmäßigen Anordnungen
der Aufenthaltsstaatsgewalt obliegt. Andererseits sind, im Kulturstaate unserer Zeit wenigstens,
die Fremden auch keineswegs rechtlos. Die systematische Darstellung dieser Materie mit allen
Einzelheiten gehört in das Völkerrecht. Diese Disziplin lehrt, inwieweit die Staaten,
also auch der deutsche Staat als Reich und Land, rechtlich verpflichtet sind, Fremde i. e. S.,
Ausländer, in ihrem Gebiete zu dulden (Ausweisungsrecht!), welche Pflichten sie den
Geduldeten höchstens auferlegen dürfen, und welche Rechte sie ihnen mindestens gewähren
müssen; — kurz, in welchen Grenzen der Staatsgewalt eine differentielle Behandlung der
Ausländer im Verhältnis zu den Inländern von Völkerrechts wegen gestattet ist. Die Rechts-
lehre von der Stellung der Ausländer in Deutschland scheidet demnach hier aus. Dagecgen
ist näher einzugehen auf jene zweite Kategorie von Fremden i. w. S., auf die landes-
fremden Reichsangehörigen. Deren Rechts= und Pflichtverhältmis zur Auf-
enthaltsstaatsgewalt, also zu der Gewalt desjenigen deutschen Einzelstaates, dem sie nicht an-
gehören, wird nämlich nicht durch völkerrechtliche Normen, sondern ausschließlich durch das
Staats recht, d. h. das Reichs staatsrecht, bestimmt.
Ein Doppeltes ist vorauszuschicken (s. das Nähere hierüber im nächsten Paragraphen).
Einmal die Tatsache, daß die bundesstaatliche Struktur des Reiches jedem Deutschen grund-
½ v. Frisch, Das Fremdenrecht, die staatsrechtl. Stellung der Fremden (1910); Zorn,
Art. „Ausland, Ausländer“ in v. Stengel-Fleischmanns Wörterb. des Staats= und
Verwalt.-Rechts; Anschütz, Preuß. Verfassungsurkunden 1 99 f. — Aus der völkerrechtlichen
Literatur vgl. z. B. Stoerk in v. Holtzendorffs Handb. d. Völkerr. 2 585 ff. Über das
Indigenat des Art. 3 RV. vgl. Laband, Staatsr. 1 182 ff. und die dort angegebene Literatur.