Deutsches Staatsrecht. 83
sätzlich eine zweifache Staatsangehörigkeit aufprägt: die Reichs- und die Landesangehörig-
keit, — er ist Reichsangehöriger, weil und solange er einem der Einzelstaaten angehört. So-
dann ein Zweites. Die positiv-rechtliche Ordnung des Erwerbs der Staats-(d. h. der Landes.)
angehörigkeit durch das RG. vom 22. Juli 1913 (s. d. nächsten Paragraphen) ist nicht die, daß
es eine bloße Wohnsitzfrage wäre, welchem Einzelstaate ein Deutscher angehört, daß
etwa die bayerische Staatsangehörigkeit dem Preußen oder Sachsen von Rechts wegen, ohne
eigenes Zutun, und ohne daß die bayerische Staatsgewalt es verhindern könnte, durch die bloße
Tatsache der Begründung eines Wohnsitzes oder gar eines Aufenthaltes innerhalb Bayerns
zufiele. Dem ist nicht so. Der in Bayem wohnende Nichtbayer bedarf vielmehr, um Inländer
im Rechtssinne, um Bayer zu werden, der Aufnahme in den bayerischen Staatsverband.
Freilich darf ihm diese Aufnahme, wenn er sie beantragt, nicht willkürlich versagt werden: der
Erwerb der Staatsangehörigkeit im Staate der „Niederlassung“ (s. die nächsten Paragraphen)
ist dem landesfremden Deutschen äußerst leicht gemacht. Immerhin: solange er die Aufnahme-
urkunde nicht erbeten und erhalten hat, ist er nicht landesangehörig, sonderm bleibt landesfremd.
Er ist aber in vielen Beziehungen von der Aufenthaltsstaatsgewalt so zu behandeln, als wäre
er landesangehörig. Inwiefern dies zu geschehen hat, wie weit die obligatorische Gleich-
stellung des landesfremden Reichsangehörigen mit dem Inländer reicht, ist durch die Vorschriften
der Reichsverfassung (Art. 3) über das „gemeinsame deutsche Indigenat“ be-
stimmt.
Die grundlegende Regel des Art. 3 (Abs. 1) lautet: „Für ganz Deutschland besteht ein
gemeinsames, Indigenat mit der Wirkung, daß der Angehörige (Untertan, Staatsbürger) eines
jeden Bundesstaates in jedem andern Bundesstaate als Inländer zu behandeln
und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Amtern, zur
Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts und zum Genusse aller
sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische zuzulassen,
auch in betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich zu behandeln ist."
Sinn und Absicht dieser Bestimmung gehen weder dahin, den Begriff der Landes-(Einzelstaats-)
angehörigkeit aufzuheben, ihn aufgehen zu lassen in einem unitarischen Reichsbürgerrecht, noch
dahin, der partikularen Staatsangehörigkeit jede praktisch-politische Bedeutung zu nehmen 1.
Auch wollte nicht gesagt sein, daß jeder Deutsche in jedem Einzelstaate, wo er Wohnsitz oder
Aufenthalt nimmt, Inländer ist. Sondem, daß er dort in den von der Verfassung Art. 3 Abs. 1
bzw. den ergänzenden Reichsgesetzen angegebenen Beziehungen so zu behandeln ist, als wäre
er ein Inländer.
Der sachliche Umfang der Gleichstellung des Landesfremden mit dem Inländer ist durch
die mit den Worten „und demgemäß“ eingeleitete Aufzählung nicht exemplifikativ, sondem
erschöpfend bezeichnet. In allen den aufgezählten Beziehungen, aber auch nur in diesen,
soll die Gleichberechtigung Platz greifen. Ist sonach das durch Art. 3 Abs. 1 RV. abgesteckte Gebiet
rechtlich beschränkt, so reicht es doch tatsächlich außerordentlich weit. Wichtig ist vor allem die
zusammenfassende Generalklausel „und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen
Rechte“. „Bürgerliche Rechte“ bedeutet hier weder nur die Privatrechte noch den unten
#s#17 S. 88 ff. näher erörterten Kreis subjektiver öffentlicher Rechte, sondern, wie nach der
richtigen Auslegung der Vorschrift (vgl. insbes. v. Seydel, Komm., zu Art. 3, S. 54) an-
zunehmen, sämtliche öffentlichen und privaten Rechte, welche nicht unter den
Begriff der staatsbürgerlichen oder politischen Rechte (unten § 17, S. 88)
fallen. Nur in dem Bereich der politischen Rechte, namentlich also in bezug auf Wahlrecht und
Wählbarkeit zu den staatlichen und kommunalen Vertretungen, ist die Landesgesetzgebung der-
malen noch ungehindert, die eigenen Staatsangehörigen vor den Landesfremden zu bevor-
——. — —
1 Viel weiter in dieser Richtung wollte der preußische Entwurf der Norddeutschen Bundes-
verfassung vom 15. Dezember 1866, Art. 3, gehen; er beruhte auf dem Prinzip der absoluten und
unbeschränkten Gleichberechtigung von Landesfremden und Einheimischen. Die geltende Fassung
des Art. 3 RV. entstammt den Amendements der verbündeten norddeutschen Regierungen; s.
deren Vorlage an den verfassungsberatenden Reichstag, in übersichtlicher Zusammenstellung mit
dem Entwurf vom 15. Dezember 1866 bei Binding, Staatsgrundgesetze Heft 1, größere Aus-
gabe, 6. Aufl., 83, 84.
.#„"