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zugen, also insbesondere die letzteren von dem Landtags- und Gemeindewahlrecht auszuschließen.
„An keinem Punkte kann man Reichsbürgerrecht und Staatsbürgerrecht schärfer auseinander-
halten als durch den Gegensatz zwischen Reichstagswahl und Landtagswahl; hier allein sind
beide wirklich getrennt“ (Laband 1 161).
Die praktische Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 RV. war ehedem, in den Zeiten des Nord-
deutschen Bundes und der ersten Reichsjahre, eine größere als heutzutage. Die Bestimmung
richtet sich nämlich in erster Linie gegen das Landesrecht, die Landesgesetzgebung; — sie
verbietet der letzteren, in den angegebenen Beziehungen den Landesfremden schlechter zu stellen
als den Einheimischen. Art. 3 hat also die Verschiedenheit des Partikularrechts und die Mög-
lichkeit freier Betätigung der Landesgesetzgebung auf den Gebieten der wichtigsten bürgerlichen
Rechtsverhältnisse, wie Privat- und Prozeßrecht, Freizügigkeit, Gewerbebetrieb usw., zur Vor-
aussetzung. Es ist deutlich, daß in dem Maße, als diese Voraussetzung durch das immer weitere
Vordringen der kodifizierenden und unifizierenden Reichsgesetzgebung im Bereiche jener Materien
schwand, der Art. 3 gegenstandslos und überflüssig wurde. Nachdem durch die gesetzgeberische
Tätigkeit des Reichs auf den weiten Gebieten des bürgerlichen, Straf- und Prozeßrechts ein-
schließlich der Gerichtsverfassung, des Gewerbe-, Heimats-, Niederlassungs= und Armenrechts
u. a. m. gemeines, für alle Deutschen im ganzen Reiche gleiches Recht hergestellt wurde, ein
Recht, welches die Partikularrechte vollständig beseitigte, liegt es für die Landesgesetzgebung
außer dem Bereich der Möglichkeit, insoweit überhaupt noch tätig zu werden, kann sie also auch
nicht mehr Vorschriften erlassen, welche die Landesfremden gegenüber den Einheimischen dem
Art. 3 zuwider differentiell behandeln (ovgl. Laband 1 171, 172).
Die Frage, ob Art. 3 RV. auch auf juristische Personen Anwendung finde, ist nach
der herrschenden und richtigen, wiewohl nicht unbestrittenen Meinung (s. die Literaturangaben
bei G. Meyer, §& 214 Anm. 3, und Laband 1 169) zu verneinen.
8§ 16. 2. Erwerb und Verlust der Reichs= und Staatsangehörigkeit 1.
Als sich die deutschen Staaten zum Norddeutschen Bunde, dann zum Reiche zusammen-
schlossen, erhielt mit Notwendigkeit jeder, der zur Zeit des Zusammenschlusses einem der
Einzelstaaten angehörte, die Bundes-(Reichs-hangehörigkeit und behielt diese Eigenschaft so
lange, als er Angehöriger eines der Staaten blieb. Die Reichsangehörigkeit erschien also
als accessorium, welches mit dem Besitz des principale: der Einzelstaatsangehörigkeit stand und
fiel. Der Erwerb und Verlust des principale regelte sich in den ersten Jahren des Nord-
deutschen Bundes nach den Landesgcsetzen; seit dem Bundesgesetz über die Erwerbung und
und den Verlust der Bundes= und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 nach diesem — in
der Folge auf das ganze Reich ausgedehnten — Gesetz. Das Gesetz vom 1. Juni 1870 fundiert
wie das vor ihm geltende Recht die Reichsangehörigkeit auf die Einzelstaatsangehörigkeit; es
stellt demzufolge den Satz an die Spitze (§ 1): „Die Bundesangehörigkeit wird durch die
Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat erworben und erlischt mit deren Verlust“. Eine
unmittelbare Reichsangehörigkeit, Reichsangehörigkeit ohne Zugehörigkeit zu einem Einzel-
staate, kennt es nicht. Diese ist erst durch den Erwerb der reichsunmittelbaren Gebiete,
Elsaß-Lothringen und der Schutzgebiete eingeführt worden. Unmittelbare Reichsangehörige
sind die Elsaß-Lothringer, d. h. diejenigen Personen, welche (z. B. durch Geburt, Verheiratung,
Naturalisation) Angehörige des Einzelstaates Elsaß-Lothringen sein würden, wenn Elsaß-
Lothringen ein Einzelstaat wäre. Unmittelbare Reichsangehörige sind femer diejenigen Be-
Die gegenwärtig (1913) vorhandene Literatur bezieht sich, soweit sie das geltende Recht
systematisch oder kommentatorisch darstellen will, durchweg auf das RGes. v. 1. Juni 1870 und
ist infolgedessen seit dessen Ersetzung durch das neue Reichs= und Staatsangehörigkeitsgesetz vom
22. Juli 1913 großenteils veraltet. Immerhin ist von dem, was z. B. bei Laband 1
§§s 18, 19, Meyer-Anschütz §8§ 76, 77, Zorn 1 #I12, sowie in den Kommentaren zu dem
Res. v. 1. Juni 1870 von Reger (1885) und Cahn (93. Aufl. 1908) steht, vieles noch brauch-
bar. Vgl. ferner Rehm, Der Erwerb der Staats- und Gemeindeangehörigkeit in geschichtlicher
Entwicklung, Hirths Annalen 1892 S. 137 ff.; Sartorius, Der Einfluß des Familienstandes
auf die Staatsangehörigkeit, Verwaltungsarchiv 7 319 ff.