Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

90 G. Anschütz. 
der Eheschließung vom 4. Mai 1868, Paßgesetz vom 12. Oktober 1867, Gesetz über die Gleich- 
berechtigung der Konfessionen vom 3. Juli 1869, Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869, Preß- 
gesetz vom 7. Mai 1874, Vereinsgesetz vom 19. April 1908, Postgesetz vom 28. Oktober 1871) 
eingeführt und durchgeführt worden. 
Die rechtliche Natur der grundrechtlichen Verfassungs- und einfachen Gesetzesbestimmungen 
ist vielfach bestritten. Hauptstreitpunkt ist, ob diese Bestimmungen in Wahrheit subjektive Rechte 
gewähren. Während die ältere Literatur diese Frage meist ohne Besinnen bejaht und auch 
neuere Schriftsteller (z. B. Meyer-Anschütz § 217) sich in dem gleichen Sinne entscheiden, 
meinen andere: „Keinesfalls darf dieser Ausdruck“ („Grundrechte") „zu der Annahme verleiten, 
daß es sich hier um Rechte im subjektiven Sinne handle“ (Gerber, Grundzüge S. 34); „die 
Freiheitsrechte oder Grundrechte sind Normen für die Staatsgewalt, welche dieselbe sich selbst 
gibt . sie begründen nicht subjektive Rechte der Staatsbürger. Sie sind keine Rechte, denn 
sie haben kein Objekt.“ (Laband 1 151, ganz ähnlich v. Seydel, Bayer. Staatsr. 1 301.) 
Sieht man zunächst von solchen Verfassungssätzen ab, welche nicht sowohl kein subjektives 
Recht als vielmehr überhaupt kein Recht setzen, weil sie rein programmatisch, enuntiativ, nicht 
aber dispositiv gestaltet und gemeint sind, wie z. B. der durch Art. 25 Abs. 3 der preuß. Vl. 
ausgesprochene Grundsatz der Unentgeltlichkeit des Volksschulunterrichts (ähnlich Art. 101 Abs. 2; 
s. oben S. 88), so ist bezüglich der anderen, rechtssatzmäßig formulierten Bestimmungen. 
der Ansicht Gerbers, Labands und v. Seydels allerdings zuzugeben, daß die schein- 
baren Objekte dieser Grundrechte, z. B. Gottesverehrung (Glaubensfreiheit), literarische Tätig- 
keit (Preßfreiheit), Teilnahme an Versammlungen (Versammlungzfreiheit), sich bei näherer 
Betrachtung in ein juristisches Nichts, d. h. in rechtlich bedeutungslose Vorgänge, auflösen. Wenn 
jemand zur Kirche geht, seine Gedanken drucken läßt, politische Versammlungen besucht, einen 
Kaufladen eröffnet, so übt er damit nicht subjektive Rechte aus, welche ihm dem Staate gegen- 
über zustehen, — andermfalls könnte man ebensowenig von einem staatsbürgerlichen Grundrecht, 
zu essen, spazieren zu gehen, zu schlafen, reden, was absurd wäre. In diesem Sinne gibt es 
also ein subjektives Recht der Glaubens-, Preß-, Versammlungs-, Gewerbefreiheit usw. nicht. 
Die Handlungen, welche Objekte dieser „Rechte"“ sein sollen, sind in Wirklichkeit nichts als 
rechtlich und staatlich vollkommen irrelevante Betätigungen der allgemeinen Handlungsfreiheit 
des Individuums, jener Freiheit, alles als erlaubt betrachten und tun zu dürfen, was das Gesetz 
nicht verbietet. Diese Freiheit ist aber kein subjektives öffentliches Recht. Ein solches entsteht 
erst, wenn diese Freiheit mit Akten der Staatsgewalt, welche sie rechtswidrig beeinträchtigen, 
in Kollision gerät; der entstehende Anspruch geht dann auf Unterlassung oder Aufhebung der 
Beeinträchtigung, wobei wiederum (s. oben S. 88) daran zu erinnern ist, daß Individual- 
rechte auf Vomahme oder Zurücknahme gesetzgeberischer Akte ein Unding sind und 
daher vorliegend überall nur Eingriffe der richterlichen, ganz besonders aber der vollziehenden 
Gewalt, der Verwaltung, in Frage kommen können. Die „Grundrechte“ sind nach alle- 
dem keine subjektiven Rechte der Staatsbürger auf ein positives Tun ft(z. B. schreiben und 
duucken lassen zu dürfen), überhaupt keine individualisierten Einzelrechte, sonderm aus historischen 
Gründen besonders akzentuierte Anwendungsfälle und Ausflüsse eines allgemeinen fubjektiv- 
öffentlichen Rechts, welches auf ein negatives Verhalten der richterlichen, namentlich 
aber der verwaltenden Staatsgewalt gerichtet ist und zum Inhalte hat die Unterlassung 
jedes gesetzlich nicht zugelassenen Eingriffs in die persönliche 
Freiheit (z. B. administrative Maßregeln gegen die publizistische Tätigkeit, welche die 
positivrechtliche Ausgestaltung der „Preßfreiheit“, das Reichspreßgesetz, nicht gestattet). In 
diesem Sinne kann man sagen: es gibt keine Grundrechte, sondern nur ein Grundrecht, das 
Recht auf Unterlassung gesetzwidrigen Zwanges. Und dieses Recht 
schützt nicht nur die in den grundrechtlichen Bestimmungen der Verfassungen besonders namhaft. 
gemachten, sondern alle Gebiete und Betätigungsmöglichkeiten der persönlichen Freiheit. 
Seine praktische Bedeutung ist in neuerer Zeit erheblich gewachsen, seit besondere Gerichtshöfe 
des öffentlichen Rechts, Verwaltungsgerichte ((. über dieselben die Darstellung des 
Verwaltungsrechts in diesem Werke), geschaffen und zu seinem Schutze berufen wurden.
	        
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