Deutsches Staatsrecht. 93
gesetzgebung in der Gewährung, Versagung und Aufhebung standesherrlicher Vorrechte un-
beschränkt. Die bindende Kraft der Bundesakte ist mit der Auflösung des Deutschen
Bundes erloschen, die Rolle dieses Bundes als Garant der standesherrlichen Privilegien von
dem Deutschen Reiche nicht übernommen worden (unklar und verfehlt Schulze, D. Staatsr.
I1 401 ff., richtig v. Seydel, Komm. z. RV. S. 315 ff.).
Das heute geltende Landes- und Reichsrecht kennt von Privilegien der Standesherren
noch folgende: a) das Recht der Ebenbürtigkeit der standesherrlichen Familien mit den regieren-
den Häusern; b) das Recht der Autonomie in bezug auf ihre Güter und Familienverhältnisse
„nach Maßgabe der Landesgesetze" (Art. 58 EinfG. z. BGB.);) Befreiung von der Wehrpflicht
(§ 1 RGes. vom 9. Nov. 1867); d) Befreiung der Wohngebäude von der Einquartierungslast
im Frieden (§ 4 RGes. vom 25. Juni 1868); e) privilegierter Gerichtsstand in Strafsachen: so-
weit zur Zeit des Inkrafttretens des Reichsgerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Januar 1877
die Landesgesetze den Standesherren ein „Recht auf Austräge“ (d. h. auf Aburteilung durch
ein aus Standesgenossen zusammengesetztes Sondergericht) gewährten, kann es von Reichs
wegen dabei bleiben (§ 7 EinfG. z. GVG.); k) Sitz und Stimme der Familienhäupter in den
Ersten Kammern der Landtage (s. unten § 31); g) Steuerbefreiungen in einem von den Landes-
gesetzen sehr verschieden bemessenen Umfange. In Preußen ist die wichtigste Befreiung, die
von der Staatseinkommensteuer, durch Gesetz vom 18. Juli 1892 (gegen Entschädigung) auf-
gehoben worden; Kommunalsteuerfreiheit besteht noch in beschränktem Maße (vgl. Anschütz,
preuß. Verf.-Urk. 1, 126, 127). Bayern gewährt Freiheit von staatlicher Personalsteuer und
Häusersteuer für die Schloßgebäude sowie von Gemeindeumlagen (v. Seydel, Bayer.
Staatsr. 1 330 ff.). In Württemberg, Baden und Hessen sind sämtliche Steuerbefreiungen
der Standesherren aufgehoben.
Drittes Kapitel.
Die Organisation der Reichs= und Landesstaatsgewalt.
Erster Abschnitt: Die Organisation der Reichsgewalt.
§ 19. Einleitung.
Das Deutsche Reich ist der nationale, korporative Verband, welcher, fundiert auf die
Einzelstaaten und das gesamte deutsche Volk, beide, Staaten und Volk, als seine Glieder und
Mitglieder zu einer souveränen Staatspersönlichkeit zusammenfaßt. Als ein Staat ist das Reich
selbst Subjekt seiner Gewalt (s. hierüber oben 3 3, S. 25), und, wiederum als ein Staat,
braucht und besitzt es Organe zur Darstellung und Ausübung jener Gewalt.
Als Haupt= und ursprüngliche (nach dem Sprachgebrauche Jellineks: „primäre“)
Organe des Reichs sind zunächst zu bezeichnen die großen politischen Kräfte, welchen
dieses Reich sein Dasein dankt, und in denen, von denen es fortdauernd lebt. Dieser
Kräfte sind drei: einmal die Gesamtheit der deutschen Staaten, unter ihnen zweitens
in seiner potenzierten Machtstellung, mehr als doppelt so groß als alle anderen zusammen, der
preußische Staat, endlich drittens das deutsche Volk als Ganzes, geeint und erstarkt zur Nation.
Diese lebendigen Urquellen der Reichsgewalt, Reichsorgane in diesem Sinne, reden und handeln
nun nicht unmittelbar selbst, sondern durch weitere, „sekundäre“ (Jellineka. a. O.) Willens-
träger: die Staatengesamtheit durch den Bundesrat, Preußen durch das Kaisertum,
das Volk durch den Reichstag. Auf diese drei Verfassungseinrichtungen: Bundesrat, Kaiser
und Reichstag, wird die Bezeichnung „oberste Reichsorgane“ gemeinhin im engeren und eigent-
lichen Sinne angewandt.
Oberstes — oder, wie der einigermaßen mißverständliche, aber gebräuchliche 1 Ausdruck
sagt: (souveränes“ — Organ des Reiches ist die Gesamtheit der Staaten.
Diese repräsentiert das Reich grundsätzlich voll und allein; sie ist der Träger der Reichs-
1 S. oben S. 22.