Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

94 G. Anschütz. 
gewalt!. Die ihren Willen darstellende und erklärende Versammlung, der Bundes- 
rat, hat im Streit- und Zweifelsfalle die Vermutung der Zuständigkeit zur Ausübung der 
Reichsgewalt auf ihrer Seite; der Bundesrat gehört an die Spitze des Systems der Reichs- 
organe, — wie denn auch die Reichsverfassung die Bestimmungen über den Bundesrat (Art. 6 
bis 10) denen über das „Präsidium“, d. h. das Kaisertum (Art. 11—19), und über den Reichstag 
(Art. 20—32) voranstellt. 
Die durchaus eigenartige, in der Staatenwelt von einst und jetzt nirgends ihr Ebenbild findende 
Verfassungsform unseres nationalen Bundesstaates läßt sich schwer mit Schlagworten bezeichnen. 
Leichter wird man sich darüber einigen, was das Reich nicht ist: es ist keine Monarchie und erst 
recht keine Demokratie. Seine Verfassung beruht weder auf dem Prinzip der „monarchischen 
(d. h. kaiserlichen) Souveränetät" noch auf dem der „Volkssouveränetät“ (loben S. 22, 40), viel- 
mehr auf dem Grundsatz der Staaten souveränetät, in jenem Sinne, welcher nicht 
etwa die Souveränetät der Staaten als einzelner behaupten, sondern ausdrücken will, daß 
die höchste Gewalt im Reiche bei der Gesamtheit seiner Staaten ruht. Das Deutsche 
Reich ist demnach keine Einherrschaft, sondern eine Vielherrschaft, ein Staatswesen mit „republika- 
nischer Spitze“ (Bismarck im verfassungberatenden Reichstage am 28. März 1867), freilich 
keine Demokratie, sondern, im Sinne jener antiken Dreizahl der Staatsformen, eher eine 
Aristokratie *. 
Die Verlegung der obersten Reichsorganschaft in die Gesamtheit der Staaten ist nichts anderes 
als die folgerichtige Durchbildung jenes die Reichsverfassung beherrschenden politischen Prinzips, 
welches oben S. 68, 69 als Föderalismus bezeichnet und im Gegensatz gestellt wurde 
zum Unitarismus'’?. Hätte man sich bei der Gründung des Reiches, was nicht der Fall war, 
von dem unitarischen Gedanken leiten lassen, so würde die RV. vermutlich ein. Angesicht erhalten 
haben, welches sehr von dem abweicht, welches sie heute zeigt. Im Sinne desmonarchischen 
Unitarismus wäre es gelegen gewesen, zum Träger der Reichsgewalt den Kaiser zu erheben, 
aus Deutschland eine wahre Monarchie zu machen mit einem Kaisertum an der Spitze, welches 
die deutschen Staaten und ihre Fürsten mediatisiert, zu seinen Untertanen herabgedrückt und ihnen 
einen Platz im Reichsregimente entweder überhaupt nicht oder doch günstigstenfalls nur in der Art 
gewährt hätte, daß sie, analog den Standesherren in den Einzelstaaten, untergebracht worden 
wären in einem politisch wenig belangreichen Reichsoberhause, der ersten Kammer eines Reichs- 
parlamentes, dessen zweite und Hauptkammer ein Volkshaus, der Reichstag, gebildet haben würde. 
— Der demokratische Unitarismus dagegen, wie er im Parteigetriebe des Jahres 1848 
übermächtig herrschte, 1867 jedoch und 1870 stark in den Hintergrund trat, hätte nicht sowohl die 
partikularen Monarchien als vielmehr das monarchische Prinzip schlechthin über Bord geworfen; — 
diese politische Richtung hätte die Vertretung des souveränen Volkes, den Reichstag, an die 
Spitze und in den Mittelpunkt des Reichsorganismus gestellt, das Kaisertum aber mehr darunter 
als daneben angebracht als eine aus repräsentativen und dekorativen Gründen geduldete parlamen- 
tarische Scheinmonarchie: — der Gedanke des Frankfurter Verfassungswerkes von 1849 (oben 
S. 49). Die eine wie die andere unitarische Gestaltung des neuen Deutschlands verbot sich den 
Gründern von selbst, wollten sie anders der Absicht treu bleiben, das Reich nur durch vereintes 
Zusammenwirken jener drei großen staatsbildenden Kräfte: Partikularstaaten, preußisches König- 
tum, deutsches Volk, nicht aber unter Vergewaltigung einer von ihnen zu erschaffen. Der Unitaris- 
mus in beiderlei Gestalt wäre in Frieden und Einigkeit der drei sicherlich nicht, sondern nur durch 
rechtlose Gewalt zu erreichen gewesen: das demokratische Prinzip durch die Revolution von unten, 
der monarchische Unitarismus durch Gewalttaten Preußens gegen die anderen deutschen Staaten, 
seine Verbündeten — also durch die Revolution von oben. So konnte denn, als man im Spät- 
herbst 1870 die leitenden Prinzipien der zur Verfassung des Reichs umzuformenden norddeutschen 
Bundesverfassung erwog, vom Unitarismus keine Rede sein; von der Volkssouveränität selbst- 
verständlich nicht, ebensowenig aber von der Souveränetät des Kaisers. Als politisch allein mög- 
liches, daher notwendiges Gestaltungsprinzip der Verfassung ergab sich somit der Föderalismus: 
die Kollektivsouveränetät der Staaten. 
Stellt demnach die Gesamtheit der Einzelstaaten — letztere stets voll repräsentiert durch 
ihre Regierungen — den Träger der Reichsgewalt, den Kollektivsouverän vor, so würde eine radikale 
und einseitige Durchführung dieses Gedankens fordern, daß der Bundesrat als Mund und Arm des 
Kollektivsouveräns das Deutsche Reich wie ein oberster, herrschender Senat allein und absolut 
regiere. Das ist nun aber, wie die nähere Betrachtung lehrt, weit entfernt nicht der Fall. Die 
Regierungsgewalt steht nur insoweit bei dem Bundesrat, als sie nicht den anderen obersten Organen 
1 S. oben S. 25. 
: G. Meyer, Grundzüge des norddeutschen Bundesr. [18681, S. 65: „konststutionelle 
Aristokratie“. Ahnlich Geffcken, Das Gesamtinteresse als Grundlage des Staats= und Völker- 
rechts (1908), 15. Vgl. auch W. van Calker im Handbuch der Politik 1 134. 
* Über Unitarismus und Föderalismus vgl. Rehm, Unitarismus und Föderalismus in 
der deutschen Reichsverfassung (1898), besonders aber Triepel, Unitarismus und Föderalis- 
mus im Deutschen Reiche (1907).
	        
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