Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Fünfter Band. (5)

98 Berthold Freudenthal. 
äußere oder bürgerliche oder staatliche Besserung wird erstrebt 1. Umbildung des 
sozialen Schädlings zum nützlichen Menschen, des Verbrechers zum gesetzlich lebenden Staats- 
bürger ist die Aufgabe. Als gebessert wird betrachtet, wer sich und die Seinigen auf ehrliche 
und gesetzliche Weise erhält. Freilich sind hierin, wie nicht weiter ausgeführt zu 
werden braucht, eben auch reiche innere und ethische Werte eingeschlossen. 
Ein Strafvollzug, der in diesem Sinne bessem will, darf sich nur an Besserungs- 
fähige wenden. So werden schon in der Hauptverhandlung vom Richter dem Besserungs- 
gefängnis allein die zugewiesen, die er für noch umbildungsfähig hält. Die anderen stößt er 
ab, und zwar die Abnormen an eine Krankenanstalt, die Normalen an ein Gefängnis alten Stiles: 
Die besserungs fähigen jugendlichen Verbrecher dem Reform- 
system, die besserungsunfähigen dem alten System der Staats- 
gefängnissel Findet man erst im Strafvollzuge heraus, daß Erziehung nicht möglich 
sei, so ist dann immer noch die Übertragung (transker) in eine Anstalt anderen Systems möglich. 
Die Grundlage der bessernden Strafbehandlung des Reformgefängnisses wird in ein- 
gehenden Intewiews des Direktors mit den ihm neu Eingelieferten geschaffen. Sie erstrecken 
sich weniger auf die begangene Straftat, als vielmehr auf deren soziale und individuelle 
Ursachen. Damit wird die Individualisierung erst möglich, durch die der Erfolg der demnächst 
beginnenden Umbildung bedingt ist. 
Diese Umbildung umfaßt Körper, Verstand und Charakter zugleich 2. Für die Entwicklung 
des Körpers dient kräftige und reichliche Kost, Bäder, Turnen, Sport und militärisches 
Exerzieren in Anstaltsregimenten. Der Verstandesausbildung sind allgemein- 
wissenschaftliche und besondere berufstechnische Kurse gewidmet. Zugleich sorgt man dafür, 
daß die Gefangenen nicht, wie vielfach in dem alten Systeme, durch Abschließung von der Außen- 
welt stumpf und ihr fremd werden. Maueranschläge über wichtige Tagesereignisse, von den 
Gefangenen selbst redigierte Anstaltszeitungen, ausgezeichnet ausgestattete Bibliotheken, De- 
battierabende usw. wirken nach dieser Richtung. Der Grundsatz der Charakterbildung 
endlich ist, daß der Wille des jungen Verbrechers im allgemeinen zu schwach und deshalb zu 
stählen, nicht wie es im alten System oft geschah, zu brechen ist. Diese Stählung aber erfolgt, 
indem man ihm Vertrauen schenkt und ihn gleichzeitig Versuchungen aussetzt. Beidem, der 
Verstandes- wie der Willensbildung, dient endlich die Religion. Sie ist in These 9 des 
Gefängniskongresses in Cincinnati (s. oben S. 97) das wichtigste Besserungsmittel genannt 
worden, weil sie „das mächtigste in ihrer Wirkung auf des Menschen Herz und sein Leben“ 
sei. Diese Stellung im Reformsystem hat sie noch jetzt. 
Dem Ziele so umfassender Umbildung dienen drei tief eingreifende, dem Reformsystem 
eigene Einrichtungen: Progressivsystem, unbestimmtes Strafurteil und vor- 
läufige Entlassung. 
1. Die Anstalt besteht aus Klassen, regelmäßig drei an Zahl. Der Eintretende wird 
in die zweite Klasse aufgenommen. Bewährt er sich in ihr die vorgeschriebene Zeit hindurch 
— meist 6 Monate —, so steigt er zu der ersten auf. Versagt er, so wird er in die dritte 
degradiert. Je höher die Klasse, um so größer die Annäherung an die Freiheit. Wer sich in 
der obersten Klasse — im allgemeinen wieder 6 Monate — bewährt, kann vorläufig entlassen 
werden. Dabei muß durchweg die Bewährung im Strafvollzuge, die man fordert, auf drei 
Gebieten liegen, in der Schule, im beruflichen Unterricht und in der Disziplin. Sie wird ge- 
messen durch ein Strichsystem (mark system), das man in Amerika vielfach als mathematisch 
exakt bezeichnet. In Wahrheit läßt es im Einzelfalle für die Würdigung der Veranlagung des 
Gefangenen, damit aber auch für freies Ermessen der Anstaltsverwaltung, den notwendigen 
  
1 Ahnlich Sir E. Ruggles - Brise in seinem offiziellen Bericht über den Washingtoner 
Intern. Gef.-Kongreß von 1910 S. 3. 
Die Howard Association, auf deren höchst lehrreiche Reports (London E. C. 
Devonshire Chambers, Bishopsgate) hier hingewiesen sei, berichtet für 1912 als Ergebnis anthro- 
pologischer Untersuchung an etwa 3000 Gefangenen, daß der Verbrecher „an Größe, Gewicht und 
allgemeiner Intelligenz als unter dem Durchschnitt der freien Bevölkerung stehend“ betrachtet 
werden müsse (S. 40).
	        
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