Gefängnisrecht und Recht der Fürsorgeerziehung. 99
eine Abrechnung über den jeweiligen Stand jedem Gefangenen in seiner Zelle stets
vor Augen. So spornt es zweifellos zu guter Führung und zur Vermeidung von Disziplinar-
strafen an.
Im amerikanischen Reformsysteme tritt die Einzelhaft völlig zurück. Sie hat da nur
— außer disziplinärer Funktion — die Aufgabe, den Gefangenen während seiner Ruhepausen
und bei Nacht zu bewahren, ist also gar nicht mehr Einzelhaft in unserem Sinne (s. oben S. 93).
Die Ausbildung von Körper und Geist erfolgt in Gemeinschaftshaft. Auch mit dem englischen
Systeme progressiver Folge von Einzelhaft, Gemeinschaftshaft und vorläufiger Entlassung hat das
amerikanische Progressivsystem wenig oder nichts gemein. Nicht die Folge der Haftarten ist
das dem System Charakteristische, sondern was in der Haft mit dem Ge-
fangenen angefangen wird. Diese positiven erziehlichen Einflusse,
denen man ihn mit aller Macht aussetzt, sind es auch, die das Bedenkliche der Gemeinschafts-
haft überwinden helfen. Nicht ist es das unnatürliche Schweigegebot, das in Amerika vielfach
stark eingeschränkt worden ist.
2. Wie die Klasseneinteilung, so folgt zweitens das unbestimmte Strafurteilt
(indeterminate oder indefinite sentence) unmittelbar aus dem Erziehungszwecke. Nur aus-
nahmsweise wird schon in der Hauptverhandlung, das ist sein Grundgedanke, der Richter bei
Verhängung des Strafmaßes mit Sicherheit voraus sagen können, wann das Ziel der Um-
bildung des jungen Verbrechers zum nützlichen Menschen erreicht sein wird. Erst im Straf-
vollzug ist es möglich zu bestimmen, wann die Umbildung erfolgt ist. Nur dann ist es angängig,
die geeigneten Maßregeln, die sich ergeben, mit Aussicht auf Erfolg zu ergreifen, wenn die
erforderliche Zeit für die Umbildung der Anstaltsverwaltung zur Verfügung steht. Das ist der
Gedankengang, aus dem die Verurteilung hier nicht auf eine Freiheitsstrafe von bestimmter
Dauer lautet, sonderm zunächst grundsätzlich in bloßer Uberweisung an das Jugendgefängnis
besteht. Die Entlassung aus ihm soll durch ein Entlassungsamt (parole board) dann erfolgen,
wenn es die Gewähr für vollendete Umbildung zu einem brauchbaren Bürger als gegeben.
ansieht.
Dem Schutze des Gefangenen gegen zu lange Freiheitsentziehung dient es, wenn dabei
nach dem geltenden Recht Amerikas überall ein zeitliches Höchstmaß gesetzt wird, über das der
Gefangene hinaus unter keinen Umständen in der Anstalt gehalten werden darf. Er wird also
zur Uberweisung an das Reformatory# — etwa in Elmira —, jedoch auf nicht länger als —
etwa fünf Jahre — verurteilt. Die unbestimmten Strafurteile Amerikas sind also in Wahr-
heit relativ un bestimmte oder, wenn man so lieber will, relativ bestimmte.
Wie schon des öfteren (s. oben S. 89), haben wir auch hier Anlaß, auf deutsche Quellen
einer berühmt gewordenen amerikanischen Maßnahme mit Entschiedenheit hinzuweisen 2. Un-
bestimmte Verurteilung ist in verschiedenster Form dem deutschen Strafrechte früherer Jahr-
hunderte und bis in die Mitte des 19. Jahrhundertes bekannt gewesen. Vor allem aber ist
E. C. Wines, einer der Führer der amerikanischen Gefängnisreform, insbesondere auf dem
Kongreß zu Cincinnati (s. oben S. 97 A. 2), nach dem Zeugnisse seines sachkundigen Sohnes
J. H. Wines, durch den Deutschen Obermaier wesentlich beeinflußt worden. Dieser
hatte nur dank der damals in Bayern bestehenden unbestimmten Verurteilung die zur Nach-
ahmung auffordernden Erfolge in seiner Anstalt errungen und schon 1835 auf die unbestimmte
Verurteilung aufgebaute Besserungsanstalten in Vorschlag gebracht.
3. Den Strafvollzug schließt endlich vorläufige (oder bedingte) Entlassung ab. Sie ist
aber nicht, wie bei uns, eine nur ausnahmsweise gewährte Vergünstigung, sondern ein durchaus
regelmäßiger Bestandteil des Strafvollzuges. Wer sich die vorgeschriebene Zeit in der Anstalt
gut geführt und eine geeignete Stellung draußen in Aussicht hat, wird vom Entlassungsamte,
das zum Teil aus angesehenen Bürgem besteht, entlassen. Diese Stellung aber besorgt ihm in
der Regel die Anstalt selbst, seltener der Kreis seiner Freunde und Bekannten, an den er sich
1 Siehe hierzu Graf Gleispach in d. Monatsschr. f. Krim. Psych. 8, 346 ff. und im
Ber. 1. d. 7. Int. K. f. krim. Anthr.; vgl. auch Freudenthal, Unbest. Verurt. (oben S. 97
Anm. 1) S. 245 ff.
* Den Nachweis s. bei Freudenthal a. a. O. S. 252; siehe aber auch C. G. Wächter
Strafarten, 1832 S. 50 ff.
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