Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Fünfter Band. (5)

Gefängnisrecht und Recht der Fürsorgeerziehung. 109 
stärkerer Gmppenbildung und damit Individualisierung in der Gemeinschaftshaft, wie sie in 
England stattfindet 1, wird hier von Bedeutung sein. Sollten diese Neuerungen die Kraft 
haben, aus Verbrechein nützliche Menschen zu machen — und das steht zu hoffen —, so wäre für 
die Freiheitsstrafe der Zenit noch nicht erreicht. Anders, wenn bei uns, wie bisher, nur der 
Vollzug in Einzel- und Gemeinschaftshaft auch in Zukunft in Betracht käme. In dieser Gestalt 
ist der Wert der Freiheitsstrafe allerdings überschätzt worden. Dann würde sie sich, wie mit 
Finger anzunehmen ist, allerdings auf dem absteigenden Aste befinden. 
B. Fürsorgeerziehungsrecht. 
1. Vorbemerkung. 
Die Bedeutung der Fürsorgeerziehung ergeben folgende Zahlen: Im Jahrzehnt 1901—10 
sind ihr rund 70 000 Minderjährige allein in Preußen überwiesen worden. Dadurch entstanden 
insgesamt rund 70 Mill. Mark Kosten. Am 31. März 1911 standen unter Fürsorgeerziehung 
in Preußen rund 48 000, in Bayem 4000, in Württemberg, Sachsen und Elsaß-Lothringen 
je 2000 Minderjährige. 
II. Allgemeine Grundlagen. 
§ 7. Rechtliche Natur der Fürsorgeerziehung. 
Die klare Erkenntnis der Rechtsnatur der Fürsorgeerziehung ist systematisch, aber 
vor allem auch praktisch dringend geboten. Denn sie beeinflußt die Gestaltung der 
Anstalten und ihres Verfahrens wesentlich. 
a) Natürliche Erzieher des Kindes sind seine Eltern. Sie haben wie das Recht, so die 
Pflicht seiner Erziehung. Versäumen sie die Erfüllung dieser Pflicht, so tritt der Staat statt 
ihrer ein und übemimmt die Erziehung seinerseits. So ist Fürsorgeerziehung die vom Staat 
angeordnete Erziehung eines Minderjährigen in einer fremden Familie oder in einer Anstalt. 
Nicht einen Eingriff in die Rechte des Kindes, insbesondere etwa in seine Freiheit stellt sie hier- 
nach dar, sondem einen Eingriff in Erziehungsrechte. Der in ihr liegende Zwang, der in dem 
älteren Namen Zwangserziehung erscheint, richtet sich gegen die Elterm, nicht gegen die 
Kinder. Dem Kinde gegenüber ist ein Akt der Fürsorge gegeben, der zu dem jüngeren Namen 
Fürsorgeerziehung geführt hat. Gegen das Kind kann von einem Zwang auch nicht insofern 
gesprochen werden, als etwa staatliche Erziehung, mit natürlicher verglichen, strenger sein 
müßte. Aus dem Wesen der Erziehung heraus muß eine solche Auffassung abgelehnt werden. 
Ist die Fürsorgeerziehung hiemach ein Eingriff in das Recht der Eltern oder ihrer Ver- 
treter, der Vormünder, so kann über ihre theoretisch heißumstrittenen Grenzen gegen- 
über der Freiheitsstrafe kein Zweifel bestehen: Die Rechtsgüter, in die beide 
emgreifen, sind verschiedene, hier die persönliche Freiheit des Gefangenen, dort das Er- 
ziehungsrecht der Eltern. 
Ein System der Fürsorgeerziehung muß hiernach um so höher stehen, je reiner es dies 
Wesen verwirklicht, je weniger es insbesondere von den ihr wesensfremden Elementen der 
Freiheitsstrafe in sich enthält. 
b) Wie die Gefangenschaft, so ist auch die Fürsorgeerziehung ein Rechtsverhältnis. 
Denn die in ihr liegenden Beziehungen sind vom Rechte geregelt. Das Recht aber, das sie ordnet, 
ist, gleichfalls wie dort, weil es Interessen der Allgemeinheit in erster Linie zum Gegenstande 
hat, öffentliches, und zwar Verwaltungsrecht. Die allgemeinen Grundsätze des Ver- 
fassungsrechtes kommen also auf das Rechtsverhältnis der Fürsorgeerziehung genau so zur An- 
wendung, wie wir es oben (S. 79 .) bei der Freiheitsstrafe festgestellt haben. Wie der Staat 
1i Kriegsmann, Gefängnisk. S. 301 ff.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.