112 Berthold Freudenthal.
IV. 8 10. Zur Reform der Fürsorgeerziehung.
J. Unũubersichtlich wie die Fälle der Fürsorgeerziehung (s. oben 888 u. 9) ist, infolge des
Ineinandergreifens von Reich #- und Landesgesetzen, das geltende Recht der Fürsorgeerziehung.
Ihre Ausführung liegt in den einzelnen Staaten verschiedenen Behörden ob. Vollends
zersplittert ist die Staatsausfsicht über sie: Für Preußen allein sind, nach einer offiziellen
Aufzählung in der ministeriellen Verfügung vom 12. Mai 1910 betreffend die Fürsorgeerziehung,
nicht weniger als sechs Behörden an ihr beteiligt; mit Recht heißt es daselbst, daß „die Gefahr
einer gewissen Regellosigkeit .. und einer Beunruhigung der Anstalten“ die Folge sei. Die
Verfügung sucht in verdienstlicher Weise durch Zusammenschließung der beteiligten Behörden
zu gemeinsamen Revisionen einigermaßen zu vereinfachen.
Es kommt hinzu, daß zwischen dem die Fürsorgeerziehung anordnenden Richter, insbe-
sondere dem Vormundschafts-, Jugendrichter usw., und ihrer Ausführung vielfach der not-
wendige Zusammenhang fehlt; er weiß vom Schicksale seiner Fürsorgezöglinge häufig
nichts, geschweige daß er es beeinflussen kann. Hier sind für die einzelnen Provinzen, so sagt die
amtliche Statistik des preußischen Ministeriums des Innern über
die Fürsorgeerziehung für 1907 im Anschluß an einen von Koehne schon 1906
gemachten Vorschlag, Kommissionen nötig, bestehend aus Verwaltungsbeamten, Richterm,
Padagogen, psychiatrisch gebildeten Arzten und geeigneten Frauen. Zwei ihrer Mitglieder
würden jeweilig zu revidieren haben, ihre Berichte wären, wie die der Gewerbeaussichtsbeamten
zu veröffentlichen (a. a. O. S. XILIV). Die damit gegebene größere Offentlichkeit
würde, wie anzunehmen ist, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Durchführung der Für-
sorgeerziehung erhöhen und deren Behörden damit die Erfüllung ihrer schwierigen Aufgabe
erleichtermn.
II. Die Leiter der Fürsorgeerziehungsanstalten und ihr Personal haber sich in einer
Anzahl von Fällen als ungeeignet erwiesen. Zwei Forderungen sind hier, so wenig diese Fälle
verallgemeinert werden dürfen, zu betonen: die Sicherung ausreichender Gehälter und die
Prüfung der Befähigung; zurzeit mangelt es an Ausbildungsanstalten und daher an fachmäßiger
Vorbildung; zur Vorbildung aber gehören insbesondere gewisse psychologisch-psychiatrische
Kenntnisse, — schon um der zahlreichen Minderwertigen, in Preußen etwa 70 o, willen.
Der jetzige gefängnisartige Charakter vieler Anstalten und der strafartige Charakter ihrer
Erziehung widerspricht dem oben (§ 7) festgestellten Wesen der Fürsorgeerziehung. Denn sie
ist — wie wir sahen — nicht Beschränkung der Freiheit, sondern Beschränkung von
Erziehungsrechten. Damit hängt auch die noch vielfach als notwendig angenommene
Abschließung der Zöglinge hinter Schloß und Riegel zur Verhütung ihres Entweichens
zusammen, an Stelle des bewährten Systems der „offenen Tür"“. Ebenso die Anwendung
körperlicher Züchtigung und anderer mehr oder weniger „plumper Zwangsmittel“,
wie der amtliche Bericht des Preußischen Ministeriums des Innern für 1909 (S. 41) treffend
sagt; sie ist aber neuerdings wieder durch Verfügung vom 25. Dez. 1910 selbst für weibliche
Zöglinge — auch nachschulpflichtigen Alters — anerkannt und durch Verfügung vom 31. Okt.
1911 noch verschärft worden, soferm die vorherige Anhörung des Arztes für unnötig erklärt ist.
Jede solche Maßregel ist, wie schon bemerkt, nichts als ein mangelhafter Ersatz pädagogischer
Fähigkeiten der Anstaltsbeamten, auf den man im Auslande vielfach längst verzichtet hat
(ugl. z. B. japanische Erziehungsgrundsätze bei Adolf Matthiast, französische
bei Fuchs ?.
Es ist unerläßlich, die Erfahrungen des Auslandes auch beim Bau neuer Fürsorge-
erziehungsanstalten zu Rate zu ziehen und sie den bewährten deutschen Einrichtungen
einzuarbeiten. Hier steht nach dem Urteil der Sachkundigen, wie Baernreither u. a.,
das amerikanisch-englische Ausland in allererster Linic. Seine Fürsorgeerziehungs-
anstalten sind reine Erziehungsanstalten. Sie verwirklichen den nichtpönalen Erziehungseingriff
1 A. Matthias in d. deutsch. Revue, März 1911 S. 8 A. 1; s. Japans Regulat. for
the applicat. of Prison Law 16. day of June of 41. year of Meiji art. 152 ff., bes. 157 ff.
* L. Fuchs in Bl. f. Gefängnisk. 43, 319 ff.