Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Fünfter Band. (5)

Strafprozeßrecht. 121 
J. Die germanische Gerichtsverfassung kennzeichnet sich durch ihren demokratischen 
Charalter: das Urteil sprach die Vollsversammlung selbst, der Vorsitzende oder „Richter“ war 
also nicht gleichzeitig „Urteiler“, sondern hatte nur die Leitung und den Urteilsvorschlag; im 
fränkischen Recht wurde ihm später auch der Urteilsvorschlag aus der Hand genommen und 
auf die sieben Rachimburgen, weiterhin auf sieben lebenslänglich fungierende Schöffen, scabini, 
übertragen. Die Gerichtssitzungen waren naturgemäß öffentlich und mündlich. Das Verfahren 
wurde durch Klage des Verletzten oder seiner Sippe in Lauf gesetzt; ausnahmsweise konnte 
später in gewissen Fällen der König durch seine Beamten von Amts wegen Verbrechen ver- 
folgen lassen (Rügegerichtsbarkeit). Die erste Frage in der Verhandlung war die, ob der 
Beklagte geständig sei. Wenn ja, so erging ohne weiteres Verurteilung. Im anderen Falle 
sprach sich das Urteil darüber aus, wer zu beweisen habe (Beweisurteil), und verhängte Ver- 
urteilung oder Lossprechung demgemäß nur bedingt. Nach Maßgabe des Urteils erfolgte 
sodann die Beweisaufnahme. Sie bezog sich niemals auf Tatsachen, sondern bestand regel- 
mäßig in dem Eide der Partei (gewöhnlich des Beklagten), daß sie im Rechte sei, unterstützt von 
dem Eide der Eideshelfer, daß der Eid des Hauptschwörers „rein und nicht mein“ sei; später 
traten als Beweismittel die Gottesurteile hinzu. Nach dem Urteile mußte die Partei das 
Urteil zu erfüllen geloben (fides facta), widrigenfalls sie friedlos gelegt wurde. Ein Instanzen- 
zug fehlte naturgemäß; nur konnte der Urteilsvorschlag vor gesprochenem Urteil „gescholten“ 
werden, dergestalt, daß der Scheltende nunmehr durch Zweikampf die Gerechtigkeit seiner Sache 
erhärten mußte. 
II. In Rom lag die Strafjustiz geraume Zeit bei den comitia centuriata, weiterhin 
bei den quaestiones („Schwurgerichten"), d. i. Ausschüssen, die, anfänglich nur für den ein- 
zelnen Fall niedergesetzt, später zu „quaestiones perpetuae“ wurden. Das kaiserliche Rom 
brach mit der Laienjustiz und legte vermittelst des siegreichen Vordringens der sog. „#e#xtra- 
orcnaria cognitio“ nach und nach die Rechtsprechung ganz in die Hände beamteter Richter. 
Der römische Prozeß setzte, wie der germanische, die Anklage eines Anklägers voraus, so jedoch, 
daß grundsätzlich quivis ex populo zur Klageerhebung legitimiert war. Verhandelt wurde 
in Rom mündlich und, solange in foro verhandelt wurde, auch öffentlich. Die Grundlage- 
der Verhandlung bildeten die Parteivorträge; an sie schloß sich die durch die Parteien selbst 
vor sich gehende Vorführung der Beweise an. Der Beweis war, anders als im germanischen 
Recht, auf Erzielung persönlicher Uberzeugung gerichtet; nur wurde die Aufdeckung der Wahr- 
heit durch Zulassung der Folter gefährdet, die freilich gegen gewisse Personalklassen, wie Sol- 
daten, Senatoren, höhere Beamte, ausgeschlossen war. Rechtsmittel waren dem älteren 
römischen Prozeß unbekannt; in der Kaiserzeit bildete sich die appellatio heraus. 
III. Der römische Prozeß wurde nach der Völkerwanderung dadurch zum romani- 
schen, daß kanonischrechtliche und gewohnheitsrechtliche Elemente in ihn eindrangen. Dieser 
umgemodelte Prozeß, wie ihn hauptsächlich die italienischen Praktiker in ihren Schriften dar- 
stellen, zeigt besonders folgende Abweichungen von dem römischen: eines Anklägers — und 
dies ist die bedeutsamste Neuerung — bedarf es nicht mehr; es tritt das Offizialprinzip mit 
Inquisitionsform auf (kanonischrechtlich in Anknüpfung an fränkisch-normannische Rechts- 
einrichtungen), so jedoch, daß auch das Auftreten eines Anklägers zulässig bleibt. Der Prozeß. 
verliert allmählich die Eigenschaften der Mündlichkeit und Offentlichkeit. In das römische 
Beweisrecht dringt aus dem germanischen der Reinigungseid des Beklagten ein; die Folter wird 
stark zur Anwendung gebracht. Allmählich bildet sich eine formale Beweistheorie aus, die 
dem Richter vorschreibt, unter welchen formalen Voraussetzungen er eine Tatsache glauben 
oder nicht glauben dürfe. 
IV. Durch die Rezeption des römischen Rechts überhaupt fand auch der romanische 
Prozeß in Deutschland Eingang, ohne jedoch den einheimischen ganz verdrängen zu können. 
Der durch diese Duplizität geschaffenen Unsicherheit wurde einigermaßen durch die Gesetz- 
gebung abgeholfen. Das wichtigste der hierher gehörigen Gesetzgebungswerke war die Peinliche 
Gerichtsordnung Karls V., Constitutio Criminalis Carolina von 1532 (PO., CCC.). An sie 
schloß sich der gemeine deutsche Gerichtsgebrauch an; er schuf so das gemein e deutsche Straf- 
prozeßrecht. Germanischen Traditionen folgend behielt dieses die Schöffen als Urteiler bei, 
 
	        
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