Strafprozeßrecht. 135
§ 9. I. Die ordentliche Strafgerichtsbarkeit im allgemeinen.
I. Wie alle Gerichtsbarkeit (Gerichtsherrlichkeit), so ist auch die Strafgerichtsbarkeit —
die zur streitigen Gerichtsbarkeit, juriscictio contentiosa, gehört — ihrem Wesen nach Be-
fugnis zur Betätigung der Rechtspflege durch autoritative Einrichtungen. Sie steht gemäß
*#15 GVG. ausschließlich dem Staate zu, und zwar ist die Gerichtsbarkeit auch nach Entstehung
des Deutschen Reichs grundsätzlich den einzelnen Bundesstaaten verblieben; die Justiz, und so
auch die Strafsjustiz, ist preußisch, bayrisch, sächsisch usw.; das Reich übt die ordentliche Straf-
gerichtsbarkeit nur insoweit aus, als es sich um die Tätigkeit des Reichsgerichts sowie der Kon-
sular- und Kolonialgerichte 1 handelt. Doch hat das Reich die Aufsicht über die Ausübung der
Gerichtsbarkeit in toto (Art. 4, vgl. Art. 77 NVerf.).
Ihrem räumlichen und persönlichen Umfange nach ist die Gerichtsbarkeit des Reichs
und die der Bundesstaaten dem Grundsatze nach schrankenlos. Sie ist räumlich schrankenlos,
d. h. sie ergreift ohne weiteres auch ausländische Vorfälle und ist keineswegs auf inländische
Vorgänge beschränkt. Sie ist persönlich schrankenlos, d. h. ihr unterliegt — abgesehen von der
Konsulargerichtsbarkeit, die sich nur auf die in dem betr. Konsulargerichtsbezirk wohnenden
oder sich aufhaltenden Deutschen und Schutzgenossen erstreckt — grundsätzlich jedermann, der
nicht eximiert, „gerichtsfrei“ ist. Eximiert aber sind von der ordentlichen Strafgerichts-
barkeit, und zwar
1. von aller deutschen ordentlichen Strafgerichtsbarkeit:
aà) die fremdländischen Exterritorialen, insoweit sie dem Deutschen Reiche gegenüber
exterritorial sind, (§S 18 Abs. 1, 19, 21 G.) (was hier von Missionen gesagt ist,
ist analog auf die übrigen Exterritorialen auszudehnen);
b) die Landesherren und die Mitglieder der landesherrlichen Familien, sowie der
fürstlichen Familie Hohenzollern, der vormaligen Herrscherhäuser von Hannover,
Kurhessen und Nassau und des herzoglich holsteinischen Fürstenhauses, — insoweit
sie auf Grund des § 5 EGVG. (dazu RGes. v. 25. März 1904) durch Hausverfassung
oder Landesrecht von der Gerichtsbarkeit befreit sind (reichsrechtlich sind diese Per-
sönlichkeiten nur von einzelnen das Verfahren betreffenden Sätzen eximiert,
oben § 40.
) Nach Art. 31 RVerf. dürfen die Mitglieder des Reichstags während der Sitzungs-
periode desselben nur mit Genehmigung des Reichstags zur Untersuchung gezogen
oder verhaftet werden, außer wenn sie bei Ausübung der Tat oder im Laufe des
nächstfolgenden Tages ergriffen werden; und es ist jedes Strafverfahren gegen sie
auf Verlangen des Reichstages für die Dauer der Sitzungsperiode aufzuheben.
Ob auch den Mitgliedern der einzelstaatlichen gesetzgebenden Körperschaften Immu-
nität zusteht, richtet sich nach Landesrecht zufolge § 6 ESt PO.; räumt letzteres
Immunität ein, so muß in dubio darin eine Befreiung von aller deutschen Gerichts-
barkeit, nicht bloß der des betreffenden Bundesstaates, erblickt werden, was freilich
nicht alleeitig zugegeben wird.
2. Von, der Gerichtsbarkeit nur des einen oder anderen Bundesstaates
sind exemt:
a) diejenigen fremdländischen Exterritorialen, die diese Eigenschaft nicht gegenüber
dem Reiche, sondern nur gegenüber einem der Bundesstaaten haben (5 18 Absl. 2
Satz 1 G.:
b) die nichtpreußischen Mitglieder des Bundesrats (sie sind befreit von der preußischen
Gerichtsbarkeit), (S 18 Abs. 2 Satz 2 G.).
Zu den im vorstehenden 1 und 2 aufgeführten Eximierten treten noch hinzu die Personen
die unter Sonderstrafgerichte gestellt sind; sind diese auch nicht von der „Strafgerichtsbarkeit“
befrei, 1. sind sie doch exemt von der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit vgl. oben
5 6 II
Darüber, daß Konsular= und Kolonialgerichte ordentliche Gerichte sind, siehe unten § 11 II.