190 Ernst Beling.
Beweisantrag ablehnen. Dies auch dann nicht, wenn das Gericht die Unglaubwürdigkeit auf
persönliche Verhältnisse (Verwandtschaft des Zeugen mit dem Angeklagten usw.) gründen will;
wenn das Reichsgericht in solchem Falle eine Ablehnung gutheißt, so übersieht es, daß der in
abstracto noch so unglaubwürdige Zeuge in concreto doch sehr vertrauenswürdig sein, und seine
Vernehmung das bisherige Beweisergebnis umwerfen kann. Auch eine Abwägung des an-
gebotenen Beweismittels gegenüber den schon benutzten darf nicht im voraus vorgenommen
werden in der Tendenz, das angebotene Beweismittel unbenutzt zu lassen. Selbst wenn 99 Zeugen
übereinstimmend eine Tatsache bekundet haben, kann sich durch Vernehmung des hundertsten Zeugen
eine totale Umwälzung des Beweisfragestandes ergeben. Etwas ganz anderes ist es, wenn
etwa die Vernehmung eines vom Tatort 50 Schritt entfernt gewesenen Augenzeugen mit der
Begründung abgelehnt wird, daß dessen Bekundung gegen die Wahrnehmung von zehn schon
vernommenen, unmittelbar am Tatorte selbst befindlich gewesenen Zeugen nicht aufkommen
könne. Hier wird nicht der beantragte Beweis als unglaubhaft unterdrückt, sondern es wird
die Tatsache, daß sich der Sachverhalt in einer Entfernung von 50 Schritt anders dargestellt
habe, als bisher zur Sprache gebracht, als unerheblich charakterisiert. Es liegt also hier
der oben erörterte Fall vor, daß das Beweisthema als wahr angenommen, ihm aber
ein Einfluß auf die richterliche Meinungsbildung abgesprochen wird.
IIII Zum Schlußvortrag (Plaidoyer) berechtigt sind beide Parteien, und zwar an erster
Stelle die Staatsanwaltschaft. Auf die von dem Angeklagten gegebenen Ausführungen ist die Staats-
anwaltschaft zu erwidern befugt. Das letzte Wort gebührt dem Angeklagten (5§8. 257, 258 St PO.).
IV. Den Gegenstand der Urteilsfindung bildet (abgesehen von § 211 St PO.; oben §59 IVa)
die im Eröffnungsbeschlusse bezeichnete Tat in ihrer Eigenschaft als „die Strafsache“ (§ 263
St PO.; vgl. oben §§ 6, 7.). Andere Taten können nur unter den Voraussetzungen des 8 266
St PO. auf Grund einer Inzidentanklage mit abgeurteilt werden (oben 8 69 IVb). Nicht bindend
für das erkennende Gericht ist dagegen (wegen der Einheitlichkeit der Strafsache) die juristische
Würdigung der Tat, wie sie der Eröffnungsbeschluß enthält; nur ist der Angeklagte vorkommenden-
falls auf Veränderungen des rechtlichen Gesichtspunkts (fälschlich so genannte „Klageänderung"“
oder „Klagebesserung") hinzuweisen (s 264 St PO.). Im Hinblick auf die Einheitlichkeit der
Strafsache versteht sich auch von selbst, daß Verschiebungen im Tatsachenmaterial nicht aus-
geschlossen, vielmehr voll zu berücksichtigen sind.
V. Fehlt eine Urteilsvoraussetzung, oder ist die Sache noch nicht spruchreif, so schließt
der Termin mit einem Beschluß ab, z. B. auf Unzuständigkeitserklärung (§s 270 St PO.), Ver-
tagung usw.; nach erfolgter Vertagung muß, dem Konzentrationsprinzip gemäß, eine total
neue Hauptverhandlung mit neuer Verlesung des Eröffnungsbeschlusses, neuer Beweisauf-
nahme usw. erfolgen. (Anders bei kurzen, d. h. sich nicht über den vierten Tag hinaus erstreckenden
„Unterbrechungen“, § 228 St PO.)
Zu einer Vertagung hat es zu kommen, wenn die Ladungsfrist (S 216 St PO.) gegen
den Angeklagten nicht gewahrt ist; wenn das Gericht mehr Beweismaterial, als zur Stelle
befindlich und ohne Aussetzung erreichbar ist, für nötig hält; wenn ein an Stelle eines aus-
gebliebenen bestellter neuer Verteidiger die Vertagung zwecks Vorbereitung verlangt, und Unter-
brechung der Hauptverhandlung nicht genügend erscheint (§ 145 St PO.); wenn sich der juristische
Gesichtspunkt gegenüber dem Eröffnungsbeschluß ändert und entweder infolge der veränderten
Sachlage eine Aussetzung zur genügenden Vorbereitung der Anklage oder der Verteidigung
angemessen erscheint oder der Angeklagte die Aussetzung verlangt, indem er einen neu hervor-
getretenen, ein schwereres Strafgesetz oder einen Straferhöhungsgrund bedingenden Umstand
bestreitet usw.
VI. Unzulässig ist die Abhaltung einer Hauptverhandlung gegen eine Person des Beurlaubten-
stundes oder eine gleichgestellte Person, solange sie zum Dienst einberufen ist (s§ 9 Abs. 1 Satz 2
MSt.).
§ 63.
8) Die schwurgerichtliche Hanptverhandlung speziell.
Literatur: Heinze, Goltd. Arch. Bd. XIII S. 616, Bd. XIV S. 1; Die Prinzi-
pien des braunschweigischen Strafprozesses, drei gutachtliche Berichte des
Herzogl. Obergerichts olffenbüttel; Die Rechtsfindung im Geschworenen-