Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Fünfter Band. (5)

232 Heinrich Dietz. 
Erster Teil. Einleitung. 
Ziffer 1. Geschichtliches. Quellen. 
I. Die Militärgerichtsbarkeit ist geschichtlich aus dem Wesen und den Aufgaben der be- 
waffneten Macht zu erklären. Solange es Heere gegeben hat, ist auch das Bedürfnis nach 
eigener Gerichtsbarkeit, die sich zeitweise in persönlicher Hinsicht nicht nur auf das militärische 
und gemeine Strafrecht erstreckte 1, vorhanden gewesen. An der Strafgerichtsbarkeit des Heeres 
(der Marine) ist auch in der Zukunft nicht zu rütteln; sie der bewaffneten Macht nehmen, hieße 
den Soldaten seinem natürlichen Richter entziehen. Sie ist staatliche Notwendigkeit. Die 
Militärstrafgerichtsbarkeit entwickelte sich als ein Ausfluß der Befehlsgewalt oder, wie heute 
gewöhnlich gesagt wird, der Kommandogewalt. Das Geburtsjahr des deutschen Kriegsgerichts- 
wesens wird in das Jahr 1499 verlegt, in dem Kaiser Maximilian bei der Tiroler Miliz und auch 
sonst in seinem Heere Kriegsgerichte einrichtete v. Bonin, Die Entwicklung des Kriegsgerichts- 
wesens, 1912). Dieses Vorgehen hing eng mit den Veränderungen in der Art der Kriegführung 
und mit dem Streben zusammen, die fremden Söldner durch Landsknechte zu ersetzen; für 
diese war das vorher geltende bündige Verfahren nicht mehr geeignet. Die Entwicklung 
drängte sofort zur Bildung der Schöffengerichte, wie es auch die bürgerlichen Gerichte damals 
waren. Richter war der Oberst des Regiments, ganz in Anlehnung an die altdeutsche Ver- 
bindung des richterlichen Amtes mit dem des Heerführers. Er übertrug bald die eigentliche 
Geschäftsführung einem erprobten alten Kriegsmanne, dem Schultheiß, der oft noch eine 
Kompagnie oder ein Fähnlein führte, während er die Fülle der Gerichtsherrlichkeit, vor allem 
die Einleitung des Verfahrens, Vollstreckung und Begnadigung in seiner Hand behielt. Zu 
den Schöffen traten nach und nach als Beisitzer noch Gerichtsoffiziere, die schließlich die eigent- 
lichen Kriegsleute verdrängten. Das Verfahren war Anklageverfahren, mündlich, öffentlich. 
Hinzu trat der Umstand, die große Gerichtsgemeinde, aus den Kriegsleuten des Regiments 
bestehend, ohne Dingpflicht. Der Schwerpunkt des Verfahrens lag in der Hauptverhandlung. 
Nicht überall war die Entwicklung dieselbe. Den Einflüssen des gemeinen Untersuchungsprozesses, 
wie er sich allmählich unter den Wirkungen des kanonischen Rechts und der Karolina heraus- 
gebildet hatte, konnte sich das Militärstrafverfahren auf die Dauer nicht entziehen. Doch konnte 
der Kampf des 19. Jahrhunderts gegen alle Sondergerichtsbarkeit der militärischen nichts an- 
haben, und das lag wohl daran, daß in ihr von allen Sondergerichtsbarkeiten das deutsche Recht 
am wenigsten verfälscht worden war. „Tief bis ins Mittelalter hinein“, sagt v. Bonin, „ragen 
die Wurzeln unserer Kriegsgerichte, und dennoch sind sie ein echtes Gebilde der Neuzeit, ja, sie 
sind sogar das Prototyp der modernen Gerichte. Sie sind die ersten Gerichte, bei denen die 
mittelalterlichen Prinzipien der Erblichkeit und der lehnrechtlichen Verleihung der Gerichts- 
barkeit von Grund aus beseitigt wurden, und zwar nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich 
Das einzige Moment, das noch auf lange Zeit hinaus gewissermaßen mittelalterlich blieb, war 
die Art der Rechtsentwicklung: sie geschah — ganz wie im Mittelalter — vorwiegend gewohn- 
heitsrechtlich. Die Gründe, weshalb seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts allgemein Kriegs- 
gerichte eingeführt wurden, waren ausschließlich praktischer Natur, ohne daß irgendwelche Theo- 
reme dabei mitgewirkt hätten, mit deren Hilfe Juristen nachträglich mitunter ihre „Berechtigung“ 
zu begründen suchten; und diese praktische Grundlage mag auch ein gut Teil Verdienst daran 
haben, daß sich die Einrichtung so trefflich bewährt hat.“" 
II. Vor Erlaß der MStG#O. für das Reich war in Deutschland das Militärstraf- 
verfahren verschieden gestaltet: In Preußen galt die MStE. vom 3. April 1845, 
auf der Grundlage des schriftlichen und geheimen Untersuchungsverfahrens beruhend. Die 
Spuchgerichte erkannten auf Grund der Akten und waren (ein Grundsatz, der übrigens 
im Laufe der Zeit abgeschwächt wurde) bei Prüfung des Beweismaterials an feste 
Beweisregeln gebunden. Zur Ergänzung mußten die allgemeinen Landesgesetze heran- 
1 Die Militärgerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtsangelegenheiten ist beispielsweise in 
Preußen erst durch KO. v. 19. 7. 1809, in Osterreich gar erst durch Gesetz vom 20. 5. 1869 auf- 
gehoben worden.
	        
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