Kirchenrecht. 299
Aufgabe der Obrigkeit sei. Auch sie erstrebten daher die Einigung von Kirche und Staat unter
der Herrschaft des letzteren. Doch blieb bei den arianischen Germanen die Eingliederung des
lirchlichen Fremdlörpers begreiflicherweise lose, und der Ubertritt führte, wo nicht, wie bei den
Langobarden, der politische Gegensatz zum Oberhaupt der Kirche im Wege stand, leicht zu einer
Vorherrschaft der Geistlichk eit, wenn auch in nationaler Abgeschlossenheit (so bei den Westgoten
seil 589). Zu einer vom Königtum beherrschten Landeskirche brachten es dagegen die katho-
lischen Franken. Die Merowinger gewannen nicht bloß Einfluß auf die Besetzung der bischöflichen
und erzbischöflichen Stühle (oben S. 295 A. 1), sie veranlaßten vielmehr auch oder gestatteten den
allerdings unregelmäßigen Zusammentritt von Landessynoden, denen gegenüber ihnen ein Veto
zustand, und deren Beschlüsse nur durch ihre Bestätigung weltlich wirksam wurden, wie sie
auch daneben ein einseitiges Gesetzgebungsrecht über die Kirche ausübten. Anderseits vermag die
Kirche nicht nur die Sonderstellung der Bischöfe (vgl. S. 298 A. 1) in Kriminalsachen zu behaupten
(Freisprechung durch die Synode verbindet den weltlichen Richter), sondern sogar im Edilt
Chlotars 11. von 614 das Zugeständnis zu erzielen, daß Priester und Diakonen nach dem welt-
lichen Kriminalprozeß, aber vor der Strafverhängung einem (nicht präjudiziellen) lirchlichen
Disziplinawerfahren unterworfen werden sollen. So das germanische Gegenstück zum römischen
Staatskirchenrecht, wie jenes das Ergebnis einer Abfindung älterer nationaler Anschauungen
mit dem Novum der Kirche.
Germinghof#e VG. K5 3—7; Thierry, RBéeits des temps Mérovingiens, 2 vol.,
1840 (seither oft aufgelegt); Loebell, Gregor von Tours ", 1869; Loenin ( Geschichte 1
500 ff., II 3 ff., 129 ff., 171 ff.; Hinschius, Kr. II 118, III §F 177, 187, IV K 259, 260;
Hauck, Die Bischofswahlen unter den Merowingern, 1883; Vacan dard, Les blections
SCpiscopales sous les Neroriygiene, R. q. h. LXIII, 1898, auch in seinen Etudes de crit. et
d’hist. eccl., 1905; Stutz, Arianismus und Germanismus (57); v. Schubert, Staat und
Kirche in den arianischen Königreichen (§ 7); Granier, Le concile d'’Agde, 1907; Zeiller,
Les 6glises arianes de Rome à Tépoque de la domination gothique, M. d’a. d'h. XXIV, 1904;
Crivellucci, Les évöchés d’'Italie et Pinvasion lombarde, Studi stor. XIII, 1905; Ro-
berti, Dei beni appartenenti alle citta dell’Italia settentrion ale delle invasioni barbariche
al sorgere dei communi, 1913 (auch im Arch. giur. und dazu Arch. stor. ser. V, 36, 1905);
Magnin, L’'église Wisigothiqgue au 7 siecle, Bibl. d’hist. rel. 1912; Coutt well, The
saxon church and the Norman conquest, (Handb. of Engl. Church hist. 1), 1909; Cabrol,
L'Angleterre chrötienne avant les Normands, Bibl. de Penseign. d’hist. eccl., 1909; Beissel,
Umwandlung heidnischer Kultstätten in christliche, St. M.-L. LXIX, 1905; Lau, Die angel-
sächsische Misionsweise im Zeitalter des Bonifaz, Kieler theol. Diss., 1909; Grisar, Rom und
die fränkische Kirche vornehmlich im 6. Jahrhundert, Z. f. k. Th. XIV, 1890; Vaes, La pa-
pauté et I’ôéglise franque à Iépoque de Grégoire le Grand, R. h. e. VI, 1905; Sohm, Die
geistliche Gerichtsbarkeit im fränkischen Reich, Z. f. Kr. IX, 1870; Nißl, Der Gerichtsstand des
Klerus im fränkischen Reich, 1886, Zur Geschichte des chlotarischen Edikts von 614, M. d. J.
f. 5. G., 3. Ergänzungsbd., 1890/94.
Drittes Kapitel.
Das germanische Kirchenrecht.
8 16. Charakter und Herrschaftsdauer.
Bald geriet die Kirche in Berührung auch mit dem germanischen Recht. Zunächst als
Römerin auftretend und anerkannt 1, unterliegt sie mit ihrem Recht (nicht mit der Lehre)
allmählich dem übermächtigen Einfluß ihrer germanischen Umgebung. In merowingischer Zeit
langsam vorbereitet, beginnt die Herrschaft des Germanismus in den Tagen Karl Martells und
erzeugt, den vorhandenen Rechtsstoff nebst originell-kirchlichen Neubildungen vorübergehend
sich angleichend, eine dritte Schicht kirchlichen Rechtes. Diese verleugnet ihre Herkunft von
1 Ribuarisches Volksrecht um 630: ecclesia vivit lege Romana. Dieser Grundsatz trat für
die persönlichen Rechtsverhältnisse der Kleriker in Gallien seit dem Beginn, in Italien seit dem
Ende des 8. Jahrhunderts außer Kraft und wurde für die kirchlichen Institute vom 9. an wegen
des Untergangs ihrer Rechtspersönlichkeit und ihrer Unterstellung unter das Sachenrecht (§ 23)
mehr und mehr unpraktisch; v. Wetsch ko, De usu breviarüi Alariciani forensi et scholastico,
5, auch in Theodosiani libri XVI edd. Mommsen et Meyer I, 1; Conrat (Cohn),
Römisches Recht bei Papst Nikolaus I., N. A. XXXVI, 1911.