310 Ulrich Stutz.
3. Der Bischof und die Gerichtsgewalt; Sendgerichte, Streit—
und Strafverfahren; Strafrecht. Die im Mittelalter wichtigste Funktion der
lirchlichen Regierungsgewalt (diese heißt davon bis heute jurisdictio), den Gerichtsbann, ver-
mochte der Bischof nicht ungeteilt zu behaupten. Er bleibt grundsätzlich der ordentliche Richter 7
in streitigen und Strafsachen und richtet (später durch seinen Offizial) im bischöflichen Send
oder in der Diözesansynode. Aber während er im 9. Jahrhundert in Person und im 10. wenigstens
durch Vertreter in Verbindung mit der Visitation des Bistums alljährlich in den Urpfarreien
den dem fränkischen Rügegericht nachgeahmten ordentlichen Send hält, in dem sieben Send-
geschworene (sie übernehmen später auch die Funktionen der Sendschöffen, also der Urteilfinder)
von Amts wegen die ihnen zur Kenntnis gekommenen kirchlichen Vergehen rügen, geht dem
Bischof seit dem 11. Jahrhundert mit dem ordentlichen Sendbann der Hauptbestandteil erst-
instanzlicher Straf- und Gerichtsgewalt über die Laien an die Archidiakonen jüngerer Ordnung
(5 19, 3) verloren, so daß er nur Oberinstanz und Richter für vorbehaltene Verbrechen wie
Ketzerei und percussio clericorum (unten S. 331 A. 3) usw. bleibt.
Hinschius, Kr. V z5 286, 288; Dove, Die fränkischen Ferdgercckte, . f. Kr. IV, V,
1864/65; Koeniger, Die Sendgerichte in Deutschland I, Veröff. a. d. Münchner kirchenhist.
Sem. III 2, 1907, Vom Send, insbesondere in der Diözese Bamberg, 70. Bericht des hist. Ber.
für Bamberg, 1912, Quellen zur Geschichte der Sendgerichte in Deutschland, 1910; Lingg,
Geschichte des Instituts der Pfarrvisitation, 1888; Knoke, Historisch--dogmatische Untersuchung
der Verwendung weltlicher Strafen gegen Leben, Leib, Vermögen, Freiheit und bürgerliche Ehre
im kirchlichen Strafrecht . der vorgratianischen Zeit, 1895.
Das Verfahren, namentlich in Strassachen, nähert sich dem germanischrechtlichen in so sem
an, als, wenigstens wenn der Ankläger keinen oder keinen vollen Beweis erbringt, der Angeklagte,
auch der geistliche, durch Reinigungseid (mit Eideshelsern) sich freizuschwören hat (Gottes-
urteil nur bei den Laien!), und als der Offizialprozeß bei Offenkundigkeit mehr als früher hervor-
tritl. Im Strafrecht macht sich der germanische Einfluß besonders in der Verwendung des Banns
zu Vollstrecungszwecken bemerkbar sowie darin, daß aus ihm selbständige Strasen wie (Lokal.)
Interdikt, Versagung des kirchlichen Begräbnisses, und — seit der zweiten Hälfte des 11. Jahr-
hunderts — Huldentzug (indignatio papae) abgezweigt werden. Auch ist es gewiß kein Zufall,
wenn der Strafeintritt mit der Tat (censurae latae sententiae) in einer Zeit aufkommt, der
die Ipsojure-Wirkung der handhaften Tat? ganz geläufig ist, und wenn die Versagung der
communicatio jJorensis, d. h. der Fähigkeit, vor Gericht anders denn als Beklagter aufzutreten,
zu den bisherigen Wirlungen des Bannes in einer Periode hinzutritt, in der nach weltlichem
Recht die Rechtsfähigkeit vormehmlich als Gerichtsfähigkeit sich äußert. Im Bußwesen, das
bei össentlich bekannten schweren Sünden wieder die öffentliche Buße, für die gebeichteten die
private kennt, bewirkt der germanische Einfluß die Möglichkeit einer Ablösung durch Geld und
die weitere der Gesamtbuße also z. B. unter Zuziehung von Knechten.
Hinschius, Kr. IV §5258, V FKF 261—263 II. 1, 266—270, 274—275, 284; Esmein,
Les ordalies dans I’église gallicane au 9e siècle, 1898; Vacandard, I/4 —. ordalies,
jetzt auch in seinen Etudes de crit. et d’hist. eccl. 1905; Franzz, Die kirchlichen Benediktionen
im Mittelalter, 2 Bde., 1909; Köstler, Der Anteil des Christentums an den Ordalien, Z. f.
RG. II, 1912, Huldentzug als Strafe, Stutz, Kr. A., 62 H., 1910; Ehrmann, Der kanonische
Prozeß nach der Collectio Dacheriana, A. f. k. Kr. LXXVII, 1897; Cremer, Die Wurzeln des
Anselmschen Satisfaktionsbegriffes, Th. St. Kr. LIII, 1880, Der germanische Satisfaktionsbegriff
in der Versöhnungslehre, ebenda LXVI, 1893; v. Möller, Die Anselmsche Satisfaktion und
die Buße des germanischen Strafrechts, Th. St. Kr. LXXII, 1899; Funke, Die Satisfaktions-
theorie des h. Anselm von Canterbury, Kg. Studien von Knöpfler u. A. VI, 3, 1903; Heinrichs,,
Die Genugtuungstheorie des hl. Anselmus von Canterbury, Forsch. z. christl. Lit.= u. Dogmengesch.
IX 1, 1909; Lea, A history of auricular confession and indulgences in the latin church, I—III
1896; Kirsch, Zur Geschichte der katholischen Beichte, 1902; Koeniger, Die Beicht nach
Caesarius von Heisterbach, Veröff. aus dem Münchner kirchenhist. Sem. II, 10, 1906; Kurt-
sch eid, Das Beichtsiegel in seiner geschichtlichen Entwicklung, 1912. Vgl. auch die Lit. zu &K 8, 31, 2.
1 Eine Sondergerichtsbarkeit entwickelt sich z. B. für den Kapitelspropst in Kapitelssachen,
Hinschius, Kr. V + 278.
à Oben I S. h6f.
* Dem seit der fränkischen Zeit ausgekommenen Bindungsverfahren würde die Herbeiführung
einer Deklarationssentenz entsprechen.