338 Ulrich Stutz.
die Strafmittel abstumpften. So mußte für den Fall des Interdikts zunächst durch Privilegien,
dann aber allgemein durch Bonifaz VIII. die Spendung des Bußsakramentes, das Messelesen
bei verschlossenen Türen und die Abhaltung öffentlicher Festgottesdienste gestattet werden.
Hinschius, Kr. V K 265, 271—275, 281; Huberti, Studien zur Rechtsgeschichte
der Gottesfrieden und bnndfeden. 1892; B yloff, Das Verbrechen der Zauberei (crimen
mastee) 1902; S9chiappoli, sespone penale senza dolo o colpa nel diritto canonico,
Studi.. . in onore di. Scialoja, I 1905; Vacandard, Etude historique et critique sur
le pouvoir coercitif de iEsiise, R. du elerge franc. XLV 1905. XIVI. 1906 (auch sep. 1907);
K rebiehl, Tbe interdict, its history anfö its operation, 1909; Weber, A history of simon)
in the christian church, 1909; Vernay, Le Liber de exzcommunicacione du cardinal Bérenger
Frédol, 1912 (und dazu Viollet t in der Histoire littér. de la France XXXIV, 1911, p. 1 ss.)
Die päpstliche und die bischöfliche Strafgewalt werden gesteigert, wogegen die priesterliche
nunmehr verschwindet. Bei der Exkommunikation wird die auf den Verkehr mit dem Gebannten
gesetzte Strafe auf die excommunicatio minor ermäßigt. Die Amtsenthebung spezialisiert sich dank
der Verkirchlichung des Benefizialwesens in die drei Arten der suspensio ab ordine, ab officio,
a beneficio, wie auch die Amtsentsetzung bei häufiger werdender privatio benefici in die schlichte
depositio und in die mit dem Verlust der geistlichen Standesrechte verbundene, die Ausliefer-
barkeit an den weltlichen Richter nach sich ziehende, feierlich und ausdrücklich verhängte degradatio
(seit Innozenz III.) auseinandergeht. Auf Gratian führt sich zurück die infamia ecclesiastica,
der seit Bonifaz VIII. namentlich der tätliche Angreifer eines Kardinals verfällt. Im Straf-
verfahren gelangen Neuerungen von weltgeschichtlicher Bedeutung zum Durchbruch. Zunächst
hat nunmehr jedem auf Exkommunikation gerichteten Verfahren eine dreimalige Mahnung
(monitio evangelica oder canonica) voraufzugehen. Die Einleitung des Strafverfahrens aber
geschieht nach Innozenz' III. epochemachender Bestimmung auf dem Laterankonzil 1215 ent-
weder per accusationem (alter Anklageprozeß) oder per denunciationem, indem nach fruchtloser
caritativa correctio, d. h. Mahnung zur Besserung, der Richter durch die Denunziation zum
Einschreiten von Amts wegen veranlaßt wird, oder endlich per inquisitionem, wofür clamosa
insinuatio, also wiederholte Verzeigung, oder publica kama, d. h. Diffamation durch Gerücht
Voraussetzung ist, und worauf das Offizialverfahren (aber nie auf degradatio) anhebt. Mit
letzterem ist das Inquisitionsverfahren Gemeingut des abendländischen Prozeßrechts geworden.
Ohne Verfahren trat Bestrafung ein bei notorium (delicta manifesta, quse judiciarium ordinem
non requirunt; hier kam es zu einer bloßen Promulgationssentenz) oder bei freiwilliger Unter-
werfung. Beweismittel war namentlich der Reinigungseid mit Helfern, purgatio canonica
(Gegensatz: p. vulgaris durch Gottesurteil). Das Verfahren richtete sich seit dem 12. Jahr-
hundert, insbesondere wegen Ketzerei, auch gegen Tote und konnte zur Ausgrabung des Leichnams
aus der geweihten Erde führen (aber auch Absolution von Toten).
Hinschius, Kr. V F/ 261, 262, 264, 278, 280, 282, 284, 285; Hausmann, Geschichte
der päpstlichen Reservatfälle, 1868; R. Schmidt, Die Herkunft des Inquisitionsprozesses, Frei-
burger Festschrift, 1902; Lex, Das kirchliche Begräbnisrecht, 1904.
Die furchtbarste Verirrung der mittelalterlichen Zwangskirche wurde die Ketzerinquisition,
die ihren Anfang nahm, als seit dem 12. Jahrhundert häretische Bewegungen, wie die der fran-
zösischen Katharer (daher Ketzer), in bedrohlicher Weise um sich griffen 1, und das Papsttum,
anfänglich in Konkurrenz mit den bisher zuständigen Bischöfen, die Ketzewerfolgung in die
Hand zu nehmen sich veranlaßt sah (1227 Gregor IX.). Zunächst wurden für die Aufspürung
der Ketzer päpstliche Inquisitoren aus dem Dominikaner-, dann auch aus dem Franziskaner-
orden bestellt, welche bald auch die Rechtsprechung übemahmen. Das Verfahren wies gegen-
über dem gewöhnlichen per inquisitionem die Besonderheit auf, daß die Namen des Anklägers
und der Zeugen verschwiegen werden mußten, daß auch Infame und sonst Zeugnisunfähige
als Zeugen zugelassen wurden, und daß man, nötigenfalls unter Anwendung der Folter, unter
allen Umständen ein Geständnis zu erzielen suchte. Die ordentliche Ketzerstrafe war seit
Friedrich II. (§ 25) die durch die weltliche Obrigkeit zu vollziehende Verbrennung. In Deutsch-
Im Zusammenhang hiermit fand wohl auch die resolutiv bedingte Taufe Aufnahme ins
Dekretalenrecht.